Gewalt gegen Frauen in der Türkei Blutige Botschaft einer Überlebenden

Blick über Istanbul: Mehr als 470 Frauen wurden in der Türkei im vergangenen Jahr ermordet (Symbolbild)
Foto: YASIN AKGUL/ AFPAls Nurtac C. Anfang Juni beschloss, ihre Tasche zu packen und ihren Mann zu verlassen, hatten die beiden bereits 23 Jahre Ehe hinter sich. Jahre, in denen sie jeden einzelnen Tag gelitten habe, sagt die 46-Jährige weinend in einem TV-Interview , "unter Schlägen, Erniedrigungen und Folter". Dass Nurtac C. ihre Geschichte erzählen kann, grenzt an ein Wunder. Denn den Versuch, aus ihrer Ehe zu fliehen, hätte sie fast mit dem Leben bezahlt.
Genau in dem Moment, in dem Nurtac C. aufbrechen wollte, sei ihr Ehemann aufgetaucht. "Geh nicht", habe er gesagt. Dann schoss er. Fünf Mal. Anschließend nahm Ragip C. seiner schwer verletzten Frau Handy und Kreditkarte ab und ließ sie in der Wohnung im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu zurück.
In diesem Moment war sich Nurtac C. sicher, dass sie sterben wird. Eine letzte Botschaft wollte sie der Welt jedoch noch hinterlassen: "Ragip hat mich erschossen. Seid nicht traurig. Ich bin jetzt frei", schrieb sie mit ihrem Blut auf den Laminatboden. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Betrogen, verbrüht, zum Sterben zurückgelassen
Die Bilder vom Tatort wurden später in türkischen Medien veröffentlicht und haben landesweit für Entsetzen gesorgt - auch weil Nurtac C. gerettet wurde und seither ausführlich über die Ehe mit ihrem gewalttätigen Mann gesprochen hat.
Er habe das Geld der Familie verspielt, getrunken und sie betrogen. Im gemeinsamen Café habe er zudem Mitarbeiterinnen und Kundinnen belästigt. Immer wieder habe sie darüber nachgedacht, ihn zu verlassen. Mal hätten sie jedoch wirtschaftliche Ängste davon abgehalten, mal ihre Familie.
Bereits ein Jahr nach der Hochzeit habe sie sich von ihrem Mann scheiden lassen, ihn aber auf Druck der Familien, seiner und ihrer, noch einmal geheiratet. "Drei Tage vor der Tat warf er eine heiße Teekanne nach mir. Meine Arme und mein Rücken wurden verbrüht. Ich beschloss zu fliehen und kaufte mir ein Busticket", sagte sie im TV-Interview.
In einer Blutlache liegend wurde Nurtac C. schließlich von ihrem Sohn gefunden. Er ließ sie in eine Klinik bringen, sie überlebte - mit ihr aber vorerst auch die Angst vor ihrem Ehemann.
Festnahme erfolgte erst nach Medienberichten
Mit ihrer blutigen Botschaft wollte Nurtac damals sicherstellen, dass er dafür bestraft wird. "Wenn ich schon sterbe, wollte ich wenigstens einen Beweis zurücklassen", sagte sie der türkischen Zeitung "Hürriyet". Doch erst, nachdem die ersten Medienberichte über den Fall aufgetaucht waren, nahm die Polizei Ragip C. Mitte des vergangenen Monats fest.
Nurtac C.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Nurtac C. überzeugt, ihr Mann werde nicht aufgeben, bis sie tot sei. "Er lässt mich nicht in Ruhe, weil er es nicht geschafft hat, mich zu töten", sagte sie damals türkischen Medien. Mittlerweile sitzt Ragip C. im Gefängnis, ihm wird versuchter Mord vorgeworfen. Ein Teil seiner Aussage ist öffentlich geworden.
"Ich habe die Kontrolle verloren. Es war eine plötzliche Aktion, ich bereue es", sagt er über die Tat. Türkischen Medien zufolge soll Ragip C. zudem ausgesagt haben, dass er die Tür zur Wohnung offen gelassen habe, damit die Nachbarn seine verletzte Frau hätten finden und einen Arzt rufen können. Wie die Waffe in seine Hand gekommen sei, wisse er nicht mehr.
Melek Önder von der Frauenrechtsorganisation We Will Stop Femicide fordert derweil, dass die Regierung den Waffenbesitz im Land stärker kontrolliert. "Nurtacs Nachricht in ihrem eigenen Blut zeigt, wie sehr Frauen zu kämpfen haben", sagte sie der türkischen Nachrichtenseite "Euronews".
Zahl der Frauenmorde steigt
We Will Stop Femicide verzeichnet seit Jahren einen Anstieg der Femizide in der Türkei. Seit 2015 hat die Zahl der Frauenmorde demnach um 63 Prozent zugenommen, von 303 auf 474 Fälle im vergangenen Jahr.
Die jüngste Statistik der Organisation ist von Mai 2020 . Allein in diesem Monat wurden demnach 21 Frauen ermordet, 18 weitere Fälle seien zudem verdächtig. Mehr als die Hälfte der Ermordeten kamen demnach durch Schusswaffen ums Leben. Neben schärferen Kontrollen des Waffenbesitzes fordern Frauenrechtsaktivistinnen zudem seit Langem, dass der Staat die Rechte von Frauen besser schützt und die Täter konsequenter bestraft.
Auch Nurtac C. will ihren Mann für eine lange Zeit hinter Gittern wissen. "Er hat mein Leben 23 Jahre lang zum Kerker gemacht. Ich will, dass er auch mindestens 23 Jahre im Kerker bleibt", sagt sie. Ihr geht es mittlerweile besser, jedoch können die Ärzte nicht sagen, ob sie je wieder laufen wird. Von ihrem Krankenbett aus fordert sie nun, dass die Gewalt gegen Frauen in der Türkei endlich aufhört.