Neues Gesetz in der Türkei Erdoğans Schlag gegen die Zivilgesellschaft

Mit allen Mitteln unterdrückt der türkische Präsident Erdoğan kritische Organisationen und politische Widersacher. Sein neuester Schachzug: Ein Gesetz, das offiziell dem Kampf gegen Massenvernichtungswaffen dient.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan

Foto: ADEM ALTAN / AFP

Seit mehr als 1000 Tagen sitzt Osman Kavala im Gefängnis. Der 63-Jährige ist der wichtigste Förderer der türkischen Zivilgesellschaft – und einer der prominentesten Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Kurz keimte an diesem Dienstag die Hoffnung auf, dass Kavala nun doch aus der Haft entlassen werden könnte.

Denn am Vormittag stand der Fall Kavala auf der Agenda des türkischen Verfassungsgerichtes. Das höchste Gericht des Landes sollte die Haftentlassung des Kunstmäzens prüfen. Vorab verbreiteten sich Gerüchte über eine mögliche Freilassung Kavalas. Das Verfassungsgericht entschied jedoch anders. Nach einem kurzen Gerichtstermin wurde die mehrjährige Untersuchungshaft für rechtmäßig erklärt. Kavala bleibt im Gefängnis – wegen Anschuldigungen, für die es bis heute keine Belege gibt.

Osman Kavala 2014 bei einer Pressekonferenz im EU-Parlament: Keine Belege für Anschuldigungen gegen ihn

Osman Kavala 2014 bei einer Pressekonferenz im EU-Parlament: Keine Belege für Anschuldigungen gegen ihn

Foto: Wiktor Dabkowski/ picture alliance/dpa

Der türkische Präsident Erdoğan wirft Kavala vor, die Proteste im Istanbuler Gezi-Park 2013 orchestriert zu haben sowie am Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft fordert eine lebenslange Haftstrafe. International wird das Vorgehen gegen den renommierten Unternehmer und Bürgerrechtsaktivisten heftig kritisiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits im Dezember 2019 geurteilt, Kavalas Inhaftierung diene nur dazu, diesen »zum Schweigen zu bringen«.

Innenministerium kann NGO-Mitarbeiter durch Zwangsverwalter ersetzen

Die höchstrichterliche Entscheidung aus Ankara ist ein weiterer Schlag für die türkische Zivilgesellschaft und nicht der einzige, den sie dieser Tage einstecken muss.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hat das türkische Parlament ein Gesetz gebilligt, das der Regierung erlaubt, massiv gegen kritische Organisationen vorzugehen. Offiziell soll mit dem Gesetz die Finanzierung und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindert werden. Die in Paris sitzende Organisation Financial Action Task Force (FATF) hatte der Türkei 2019 in ihrem Bericht Lücken im Bereich Geldwäsche und Terrorfinanzierung attestiert.

Als Antwort darauf hatte Erdoğans AKP den Gesetzentwurf am 18. Dezember ins Parlament eingebracht. Allerdings zielt nur ein geringer Teil der Maßnahmen tatsächlich auf den Kampf gegen Massenvernichtungswaffen ab. Von den 43 Artikeln des Gesetzes gelten lediglich sechs diesem Thema. Die übrigen 37 Bestimmungen geben dem Innenministerium und dem Präsidenten weitreichende Befugnisse, die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen einzuschränken:

  • Die neuen Regeln erlauben dem Innenminister, Mitglieder von zivilrechtlichen Organisationen durch Zwangsverwalter zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird.

  • Das Ministerium kann zudem die Aktivitäten der gesamten Organisation aussetzen. Ein entsprechender Antrag müsse einem Gericht vorgelegt werden, das innerhalb von 48 Stunden über den Fall entscheide, heißt es in dem Gesetz.

  • Die neuen Regelungen sehen auch vor, dass die Behörden Spenden für Nichtregierungsorganisationen blockieren können, um »Terrorismusfinanzierung« und »Geldwäsche« zu verhindern. Selbst Lebensmittelspenden könnten künftig als »Finanzierung von Terroristen« gelten.

  • Das Gesetz sieht weiterhin vor, dass Nichtregierungsorganisationen (NGOs) jährlich von Beamten kontrolliert werden. Die Höhe der Geldstrafen, die gegen Organisationen verhängt werden können, wurden stark angehoben.

Vom Sportverein über die internationale Menschenrechtsorganisation bis hin zur religiösen Stiftung ist keine in der Türkei tätige zivilgesellschaftliche Organisation von dem Gesetz ausgenommen. Entsprechend groß war die Kritik von NGOs und Opposition.

Bereits vor der Entscheidung im Parlament hatten sich Hunderte Nichtregierungsorganisationen in einem gemeinsamen Schreiben gegen das Regierungsvorhaben positioniert. Durch das Gesetz bestehe für jede einzelne NGO im Land »das Risiko, durch eine einzige Unterschrift geschlossen zu werden«, hieß es in dem Statement. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch befürchtet, dass die Aktivitäten kritischer Organisationen nun willkürlich eingeschränkt werden.

Terrorvorwürfe als Allzweckwaffe gegen kritische Stimmen

Tatsächlich sind Terrorvorwürfe in der Türkei eine Allzweckwaffe gegen kritische Stimmen. Seit dem Putschversuch 2016 wurden Hunderttausende Verfahren wegen Terrorismus eingeleitet. Ein Großteil der bei den Kommunalwahlen 2019 gewählten Bürgermeister der prokurdischen HDP wurden wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen in den vergangenen Monaten durch Zwangsverwalter ersetzt. Auch der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş sitzt wegen Terrorvorwürfen in Haft.

Noch in der Parlamentsdebatte sagte Utku Çakirözer, ein Abgeordneter der oppositionellen CHP: »Das ist ein großer Coup gegen das Recht ziviler Organisation, das in der Verfassung und den Gesetzen festgehalten ist.«

Gebracht hat die Kritik nichts. Die AKP hält mit ihrem ultranationalen Bündnispartner MHP die Mehrheit im Parlament. Nicht einmal zehn Tage, nachdem das Gesetz eingebracht wurde, waren alle Hürden genommen.

Islamische Gruppen fürchten Folgen eines möglichen Machtwechsels

Die massiven Repressionen und hohen Geldstrafen könnten für viele NGOs im Land das Ende bedeuten. Dabei ließ Erdoğan bereits nach dem Putschversuch vor mehr als vier Jahren 1748 Stiftungen, Verbände und Vereine per Dekret verbieten. »Dieses Gesetz wird zu einem gefährlichen Werkzeug«, sagt Hugh Williamson, der für Europa und Zentralasien zuständige HRW-Direktor.

Angst vor den neuen Bestimmungen haben dabei allerdings nicht nur Organisationen, die sich für die Zivilgesellschaft, Frauenrechte oder Meinungsfreiheit einsetzen. Auch islamische Gruppen äußerten sich besorgt. Sie fürchten vor allem, dass das Gesetz auch ihre Arbeit beenden könnte – sollten irgendwann einmal Erdoğans säkulare politische Gegner an die Macht kommen.

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