Ukrainische Geflüchtete in Estland Die Helfer aus der Tech-Elite von Tallinn

Businesscoach Kristjan Võrno: »Russen waren für mich genauso Freunde wie Ukrainer oder Polen. Jetzt ist das weg.«
Foto: Aaron Urb / DER SPIEGEL
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Um das Notwendigste nicht zu vergessen, sagt Elo Aun, 35, verabrede sie sich jetzt oft zum Wassertrinken. In den vergangenen zwei Wochen habe das an manchen Tagen nicht mehr geklappt. »Wir arbeiten oft von 9 Uhr morgens bis 20 Uhr abends im Büro«, sagt sie. »Und dann gehen wir nach Hause, setzen uns an den Laptop und machen weiter.«
Seit 16 Tagen arbeitet Aun daran, eine Hotline aufzubauen für Ukrainerinnen und Ukrainer, die auf der Flucht sind. Sie organisiert Busse an die Grenze, überprüft aktuelle Zahlen, fragt nach Unterkünften. So wie etwa zwanzig andere Menschen in Estlands Hauptstadt Tallinn, die über Nacht zu Helfenden in einer historischen Krise geworden sind. Was viele von ihnen verbindet: Sie sind jung, gut ausgebildet – und waren bis zu Russlands Krieg gegen die Ukraine nie politisch aktiv. Viele waren mit Mitte 30 noch nicht ein einziges Mal demonstrieren.

Flüchtlingshilfe im Start-up-Büro in Tallinn, Estland
Foto: Aaron Urb / DER SPIEGELFür die Warnungen ihrer Regierung vor einer russischen Aggression interessierten sich junge Estinnen und Esten ähnlich wenig wie die meisten Menschen in Westeuropa. Viel wichtiger erschien es vielen, einen guten Studienabschluss zu erreichen, beruflich voranzukommen, internationale Freundschaften zu schließen. Estland gilt als liberale Start-up-Nation, war mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern weit weg von der großen Weltpolitik. Jetzt ist plötzlich vieles anders.
Innerhalb von zwei Wochen sind mehr als 16.000 Menschen aus der Ukraine nach Estland gekommen. Umgerechnet auf Deutschland wären das mehr als eine Million Geflüchtete – und damit mehr als im ganzen Jahr 2015. Ob in Wahrheit nicht bereits viel mehr da sind, kann niemand sicher sagen. Durch den erstmals genutzten Schutzmechanismus der EU dürfen Ukrainerinnen und Ukrainer weitgehend unkontrolliert einreisen.
Klar ist jedoch, dass die Situation Estland schon jetzt maximal fordert. Nie zuvor kamen so viele Menschen in so kurzer Zeit hier an. Helfende klagen, der Staat sei bereits überfordert. Ursprünglich rechnete man mit 10.000 Menschen, auch das wäre historisch gewesen. Vieles wird deshalb in den kommenden Wochen von der Hilfsbereitschaft der Esten abhängen – und dem Geschick derer, die Hilfe organisieren. Ihr Umgang mit der Situation könnte entscheiden, wie künftig auf diese Zeit geblickt wird, und zeigen, was anderen Ländern in Mittel- und Osteuropa noch bevorsteht.
Geflüchtete kannten sie nur aus dem Fernsehen
Bislang, sagt Elo Aun, habe sie mit humanitärer Hilfe nichts zu tun gehabt. Sie organisierte die Kommunikation des »Tallinn Digital Summit«. Am Bahnhof stehen, für Geflüchtete klatschen – solche Momente kannte sie nur aus dem Fernsehen, sagt Aun. So wie ihr geht es den meisten, die derzeit helfen.
Kristjan Võrno beispielsweise, 40, ist eigentlich Businesscoach. »Russen«, sagt er, »waren für mich genauso Freunde wie Ukrainer oder Polen. Wir haben uns in aller Welt getroffen, zusammengearbeitet. Jetzt ist das weg.«
Noch in der ersten Woche des Krieges fuhr Võrno an die polnisch-ukrainische Grenze in Medyka, um Menschen nach Estland zu holen. Ein Busunternehmen wollte helfen, der estnische Flüchtlingsrat suchte Übersetzer. Võrno überlegte keine Stunde, dann saß er im Bus. Die Videos der Fahrt hat er heute noch auf seinem Handy. Sie zeigen, wie der Bus auf der Hinfahrt über leere Straßen holpert. Auf dem Rückweg sind die Scheiben verschmiert, das Fahrzeug ist voll mit Menschen aus dem Kriegsgebiet.
Fluchthilfe habe viel mit einer Unternehmensgründung gemein
»Wir wussten überhaupt nicht, was da los ist«, sagt Võrno rückblickend. Er wirkt müde. Nach seiner Rückkehr beschloss er, erst einmal keine Aufträge als Berater mehr anzunehmen. Das Leid der Ukrainer zu lindern, sagt er nun, sei vorerst sein einziger Job.
Weil der Platz bald nicht mehr reichte, sind die Helfenden zwischenzeitlich bei einem jungen Unternehmen am Stadtrand von Tallinn untergekommen. Das Gebäude ist neu, im Fahrstuhl wird Englisch gesprochen. Oben im siebten Stockwerk residiert eigentlich Wise, ein von Esten initiiertes Finanz-Start-up. Einer der Gründer gilt als erster Mitarbeiter von Skype – einem anderen Erfolgsunternehmen mit Wurzeln in Estland. Jetzt kommunizieren hier im gläsernen Besprechungsraum junge, gut ausgebildete Menschen, die andere vor russischen Raketen retten wollen. Es ist, das sagen sie selbst, vielleicht das Projekt ihres Lebens.

Besprechungsraum über den Dächern von Tallinn: Wo sonst Finanzprodukte geplant werden, findet jetzt Nothilfe für Tausende Menschen aus der Ukraine statt
Foto: Aaron Urb / DER SPIEGELTatsächlich, sagt Elo Aun, habe die Fluchthilfe viel mit einer Unternehmensgründung gemein: Man müsse in kurzer Zeit viele Probleme beheben, ein Team zusammenstellen und dürfe nicht vor Überstunden zurückschrecken. Um die Situation der Geflüchteten zu verstehen, sagt sie, hätten sie eine Art »User Journey« skizziert. Mit diesem Begriff versuchen sonst Unternehmen, das Nutzungsverhalten ihrer Kunden zu verstehen.
Dafür hätten sie aufgemalt, erzählt Aun, woher die Menschen kämen und was ihre Bedürfnisse seien – dann hätten sie Prioritäten gesetzt und sich Lösungen überlegt. Ein Problem der ersten Tage sei beispielsweise gewesen, dass man nie gewusst habe, wer wann ankomme. »Ein Bus am Abend«, das sei der typische Informationsstand gewesen. Inzwischen gibt es ein Onlinetool.
Mit ihm lässt sich schon an der Grenze durchgeben, wie viele Menschen ankommen werden, wie alt sie sind, welche Bedarfe sie haben und wie ihre Kontaktdaten lauten. Mittlerweile versorgen die Freiwilligen so auch die Behörden mit Informationen. »Umgekehrt hat das tagelang nicht geklappt, also haben wir es selbst gemacht«, sagt Elo Aun.
Eigentlich wollte auch Oleksandr, der Programmierer des Tools, über seine Erfahrungen sprechen. Er ist Ukrainer, wohnt seit Jahren in Estland. So wie etwa 30.000 andere Landsleute. Viele leben seit Generationen hier. Die große postsowjetische Community ist ein weiterer Motor der Hilfsbereitschaft im Baltikum. Ein Grund für Zehntausende Ukrainer, nicht nach Warschau oder Berlin, sondern nach Estland zu fliehen. Doch Minuten vor dem Gespräch sagt Oleksandr ab: »Entschuldigung, mein bester Freund wurde getötet.«
Auch den meisten anderen geht der Krieg inzwischen näher, als sie zunächst dachten. Viele sind unerfahren im Umgang mit humanitären Krisen. Der Drang, etwas zu tun, und jugendlicher Technikoptimismus prallen plötzlich auf die Wirklichkeit eines archaischen Krieges. Die allermeisten Freiwilligen, sagt Madle Timm, Sprecherin des Flüchtlingsrats, seien nach zwei bis drei Tagen erstmals ausgebrannt. »Dann, wenn das Adrenalin nachlässt.«
27-mal mehr Geflüchtete als in den vergangenen 25 Jahren zusammen
Etwa zwei Kilometer vom gläsernen Office entfernt sitzt Anu Viltrop, 41, in einem dunklen Altbau und schaut mit verschränkten Armen in einen kahlen Raum. Sie ist Vorständin des estnischen Flüchtlingsrats. Ihre jetzige Arbeit, sagt sie, habe mit den Aufgaben der vergangenen Jahre nichts mehr zu tun. Während im anderen Büro die Reise der Geflüchteten geplant wird, geht es hier um die Unterbringung. Es scheint eine ungleich schwierigere Aufgabe.
Natürlich, sagt Viltrop, erfülle es sie mit Stolz, dass es nun so viele Freiwillige gibt. Die Zahl der anerkannten Asylsuchenden habe seit 1997 insgesamt etwa 600 betragen. In den vergangenen Jahren ging es beim Flüchtlingsrat um geflohene Zeugen Jehovas aus Russland und ein paar syrische Familien. Jetzt kamen 27-mal so viele Menschen, in zwei Wochen. Plötzlich geht es um Zehntausende.

Anu Viltrop vom estnischen Flüchtlingsrat: »Ich weiß noch nicht, ob allen bewusst ist, wie sich die Welt gerade verändert«
Foto: Aaron Urb / DER SPIEGELSie erinnere sich noch gut, erzählt Viltrop, wie die Balten in den 1980er-Jahren selbst für ihre Freiheit gestritten hätten. Das sei eine Verpflichtung: »Estland ist so ein winziger Fleck auf der Welt, und wenn irgendwer hier bleiben möchte, dann sollten wir ihn mit offenen Armen empfangen.«
Wie das nun gelingen könnte, ist jedoch völlig unklar.
Die estnische Regierung setzt bislang auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Wer Ukrainer aufnimmt, soll dafür einen finanziellen Ausgleich erhalten. In den ersten zwei Wochen des Krieges schien das auszureichen. Viele Ankommende verschwanden bei estnischen Bekannten und Verwandten. Manchmal rätselten die Flüchtlingshelfer selbst, wohin es sie zog.
Mittlerweile warnen die Bürgermeister der beiden größten Städte Tallinn und Tartu, Estland habe keinerlei Pläne für die nächsten Wochen. Bislang laufe alles nur durch freiwillige Hilfe. »Auf lange Sicht wird das aber kaum ausreichen«, warnt auch Anu Viltrop. »Ich weiß noch nicht, ob allen bewusst ist, wie sehr sich die Welt gerade verändert.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.