Referendum über EU-Ausnahmeregelung Bürger sollen über Dänemarks militärische Sonderrolle entscheiden

Bisher hält sich Dänemark aus der EU-Verteidigungspolitik heraus. Doch seit dem Ukrainekrieg findet die Regierung die Sonderregel nicht mehr angemessen. Wagt das Land eine historische Wende?
Dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (M.) und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez (2. v. r.) zu Besuch in der Ukraine: Der Krieg hat in Dänemark ein Umdenken der Verteidigungspolitik bewirkt

Dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (M.) und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez (2. v. r.) zu Besuch in der Ukraine: Der Krieg hat in Dänemark ein Umdenken der Verteidigungspolitik bewirkt

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Pool Moncloa; Borja Puig De La Be / dpa

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Es ist eine amüsante Anekdote am Rande einer historischen Abstimmung: Am 1. Juni sollen die Dänen entscheiden, ob das Land eines seiner EU-Sonderrechte fallen lässt und sich künftig an der militärischen Zusammenarbeit des Bündnisses beteiligt. In Kopenhagen fehlten jedoch gut zwei Wochen vor dem Referendum noch Hunderte Wahlhelfer. Mit einem Anschreiben per Mail wollte die Gemeinde Freiwillige gewinnen – das sorgte bei den 171.143 Adressaten wohl aber eher für Verwirrung.

Die E-Mail mit dem Betreff »Werde Freiwilliger beim Referendum am 1. Juni« lieferte keineswegs Informationen für Wahlhelfer. Stattdessen wurden darin schwangere Kopenhagenerinnen eingeladen, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen. Nach ersten Hinweisen an die Kommune wurde das richtige Anschreiben schließlich mit etwas Verzögerung nachgereicht. Die Verantwortliche der Stadt, Aravni Jakobsen, hat sich für den Fauxpas entschuldigt.

»Wir hoffen, dass die Empfänger des Schreibens den Fehler mit einem Lächeln hinnehmen und sich stattdessen als Wahlhelfer melden und der Demokratie einen Tag widmen«, sagte sie. »Wir brauchen Hände für das Referendum – schwanger oder nicht.«

Die Volksabstimmung, die außerhalb Dänemarks kaum Beachtung findet – wie einige Korrespondenten des Fernsehsenders TV2 in der Sendung Nyheder zerknirscht erklärten  – könnte im Land selbst einen historischen Wendepunkt markieren. Bisher hält sich Dänemark aus der EU-Verteidigungspolitik raus. Das Referendum könnte diese fast 30 Jahre alte Praxis beenden.

Hintergrund der dänischen Sonderregel sind die sogenannten Opt-Out-Klauseln, die Dänemark sich 1993 von den Maastrichter Verträgen ausgehandelt hat. Ein Jahr zuvor hatten die Dänen noch Nein zu Maastricht gesagt und die EU damit in eine schwere Krise gestürzt. Entsprechend entgegenkommend war Brüssel damals mit Blick auf die dänischen Sonderwünsche. Insgesamt gelten für das Land vier Ausnahmeregelungen. So beteiligt sich Kopenhagen nicht an der gemeinsamen Justizpolitik und nimmt auch nicht am Euro teil. Die dritte Ausnahme betrifft die Unionsbürgerschaft und die vierte den Bereich der europäischen Verteidigungspolitik. Letztere hält die Regierung nun allerdings nicht mehr für angemessen.

»Putins sinnloser und brutaler Angriff auf die Ukraine hat eine neue Ära in Europa eingeläutet, eine neue Realität.«

Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen

»Historische Zeiten erfordern historische Entscheidungen«, sagte Ministerpräsidentin Mette Frederiksen Anfang März während einer Pressekonferenz. Damals, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, kündigte die sozialdemokratische Regierungschefin an, ihre Bürger über die Abschaffung der Ausnahmeregelung abstimmen lassen zu wollen. Zudem versprach sie, die dänischen Verteidigungsausgaben in den kommenden zwei Jahren um sieben Milliarden Kronen (780 Millionen Euro) zu erhöhen. »Putins sinnloser und brutaler Angriff auf die Ukraine hat eine neue Ära in Europa eingeläutet, eine neue Realität.«

Die Regierung appelliere sehr deutlich an die Bürger, für die Aufhebung der Verteidigungsvorbehalte zu stimmen, sagte Frederiksen. Und tatsächlich findet ihr Anliegen in Christiansborg, dem Sitz der Regierung und des Parlaments, breite Zustimmung.

Die Mehrheit der Parteien unterstützt ein Ende der Sonderregelung. Allein die Dänische Volkspartei, die Neue Bürgerliche und die Einheitsliste stellen sich dagegen. Ihre Ablehnung begründen sie vor allem mit der Befürchtung, dass nicht klar sei, worauf man sich einlasse.

Gegner fürchten unvorhersehbare Entwicklungen in der EU

Man wisse nicht, wie die EU-Zusammenarbeit sich entwickele, argumentiert beispielsweise Peder Hvelplund von der Einheitsliste. »Sie müssen Nein sagen«, forderte er die Bevölkerung auf. »Sie werden nicht erneut befragt, wenn sich etwas ändert.« Morten Messerschmidt, Vorsitzender der Dänischen Volkspartei, sprach von einem »undefiniertes Projekt, von dem niemand weiß, worum es geht.« Beide Politiker hatten öffentlich die Sorge geäußert, es könne zur Bildung einer europäischen Armee kommen. Diese Befürchtung war bereits 1993 eines der stärksten Argumente, die Sonderregel überhaupt in Brüssel einzufordern.

Messerschmidt treibt das Gedankenspiel in der aktuellen Debatte noch weiter und befürchtet die mögliche Gründung einer EU-Armee könne die Nato spalten. Schließlich, so führen die Befürworter der Ausnahmeregelung an, habe der dänische Verteidigungsvorbehalt das Land bisher nicht gehindert, seine außen- und sicherheitspolitischen Ziele zu verfolgen. Es gebe also keinen Grund, nun etwas zu ändern.

Wlodomir Selenskyj spricht per Videoschalte zu dänischen Bürgern: Die Solidarität mit der Ukraine ist groß in Dänemark

Wlodomir Selenskyj spricht per Videoschalte zu dänischen Bürgern: Die Solidarität mit der Ukraine ist groß in Dänemark

Foto: Liselotte Sabroe / dpa

Genau das bestreiten jene Parteien, die sich für die Abschaffung der Regel aussprechen. Der Ukrainekrieg habe die Weltlage völlig verändert und daher sei es für Dänemark notwendig, sich der EU anzunähern, um die europäischen Interessen zu verteidigen, heißt es von der Regierung. Bisher ist Dänemark von allen Entscheidungen im Bereich Verteidigung in der EU ausgeschlossen. Bei Sitzungen der Außenminister verlässt der dänische Vertreter in der Regel den Raum, wenn Verteidigungsthemen angesprochen werden. Angesichts der Sicherheitslage hält die dänische Regierung das nun für problematisch.

»Wir sehen, dass unsere Nachbarn jetzt zusammenziehen, und deshalb muss Dänemark mitziehen. Wir dürfen nicht das einzige Land sein, das außerhalb der sich aufbauenden starken Zusammenarbeit allein gelassen wird«, sagte Verteidigungsminister Morten Bødskov. »Wenn Entscheidungen über die Sicherheit Dänemarks in der EU getroffen werden, muss Dänemark einbezogen werden«, sagte auch Jakob Ellemann-Jensen, Vorsitzender der liberalkonservativen Oppositionspartei Venstre.

Betont wird zudem, dass Dänemark auch ohne Sonderregel jeder einzelnen Beteiligung an einer europäischen Militäroperation zustimmen müsste. Eine EU-Armee hält man bis auf Weiteres für nicht sehr wahrscheinlich. Stattdessen hätte eine Annäherung an die EU eine starke Signalwirkung. Damit würde man zeigen, dass »wir zur Europäischen Union stehen und bereit sind, die notwendige Verantwortung zu übernehmen«, hieß es aus den Reihen der Unterstützer einer neuen Politik.

Entscheidungshilfe könnte aus Schweden und Finnland kommen

In Brüssel und Berlin ist das Signal bereits angekommen. Bundeskanzler Olaf Scholz hofft darauf, dass die Dänen das dänische Opt-Out aus der europäischen Verteidigungspolitik beerdigen. Dänemark sei bereits ein sehr guter Partner in der Nato, sagte er kürzlich bei einem Auftritt im dänischen Esbjerg. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte dort, dass sie auf eine Abschaffung des Ausnahmerechts für Dänemark in der EU setze.

Der Ausgang des Referendums in dieser Woche ist jedoch noch offen. Jüngste Umfragen von Anfang Mai sehen die Befürworter eines Kurswechsels zwar deutlich vorn. 38 Prozent unterstützen die Abschaffung der Sonderregel, 27 Prozent stellen sich dagegen. Allerdings zeigte sich noch etwa jeder dritte Däne unentschlossen. Entscheidungshilfe könnten die Entwicklungen in zwei anderen nordeuropäischen Staaten geben.

Finnland und Schweden haben kürzlich entschieden, sich von der militärischen Bündnisfreiheit zu verabschieden. Beide haben gemeinsam ein Beitrittsgesuch bei der Nato eingereicht. In beiden Staaten war die Zustimmung für einen solchen Schritt seit Beginn des Ukrainekriegs deutlich gestiegen. Sollten die Dänen am 1. Juni ebenfalls mehrheitlich für Ja stimmen, hätte die russische Invasion in einem weiteren europäischen Land eine historische Kehrtwende der Verteidigungspolitik bewirkt.

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