Krieg in der Ukraine Selenskyj vergleicht Isjum mit Butscha und fordert Bestrafung Moskaus – das geschah in der Nacht

Der ukrainische Präsident Selenskyj wirft Russland Folter in Isjum vor, die Uno will ein Team in die Stadt schicken. Der Bundeswehrverband ist gegen weitere Waffenlieferungen an Kiew aus Truppenbeständen. Der Überblick.
Ukrainische Einsatzkräfte in Isjum holen einen Sarg aus einem Grab: »Es gibt bereits klare Beweise für Folter, erniedrigende Behandlung von Menschen.«

Ukrainische Einsatzkräfte in Isjum holen einen Sarg aus einem Grab: »Es gibt bereits klare Beweise für Folter, erniedrigende Behandlung von Menschen.«

Foto: Sergey Bobok / AFP

Was in den vergangenen Stunden geschah

In der von der russischen Besatzung befreiten ostukrainischen Stadt Isjum wurden Hunderte Leichen gefunden. Nun hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew eine Bestrafung Moskaus wegen Kriegsverbrechen gefordert. Die Welt dürfe nicht zusehen, wie der »Terrorstaat« Russland töte und foltere, sagte Selenskyj. Russland müsse mit noch härteren Sanktionen bestraft werden. Aktuell seien mehr als 440 Gräber in der Nähe von Isjum im befreiten Gebiet Charkiw gefunden worden.

»Es ist zu früh, etwas über die Zahl der dort begrabenen Menschen zu sagen, die Ermittlungen dauern an«, sagte Selenskyj in einer am Freitagabend in Kiew verbreiteten Videobotschaft . Zugleich sagte der 44-Jährige: »Es gibt bereits klare Beweise für Folter, erniedrigende Behandlung von Menschen. Außerdem gibt es Beweise, dass russische Soldaten, deren Positionen nicht weit von dieser Stelle waren, auf die Beerdigten einfach aus Spaß geschossen haben.«

Russland habe agiert wie im Frühjahr in Butscha, einem Vorort der Hauptstadt Kiew, wo gefesselte Leichen von Zivilisten gefunden worden waren. Der ukrainische Vermisstenbeauftragte hatte Isjum zuvor nicht mit Butscha vergleichen wollen. Es handele sich nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. »Ich möchte das nicht Butscha nennen – hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt«, so Oleg Kotenko im TV-Sender Nastojaschtschee Wremja. Selenskyj begrüßte nun, dass die Vereinten Nationen Experten schicken wollen, um die Taten »russischer Terroristen« zu erfassen.

Selenskyj berichtete zudem, dass nach dem Rückzug der russischen Armee aus dem Gebiet Charkiw »Folterkammern« in Städten und Ortschaften gefunden worden seien. Dort seien Zivilisten, darunter auch Ausländer, gefangen gehalten und misshandelt worden. Sieben Medizinstudenten aus Sri Lanka, die Selenskyj zufolge im März von russischen Soldaten in einem Keller eingesperrt wurden, seien gerettet worden und würden nun versorgt.

Die Weltgemeinschaft müsse reagieren. Der Präsident erinnerte an die Initiative Kiews für ein internationales Tribunal, um Russland wegen seines Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine zu bestrafen. Zugleich bekräftigte er Forderungen nach Reiseverboten für Russen in die EU und forderte Unternehmen zur Abkehr von Russland auf: »Wenn ein Staat den Weg des Terrors einschlägt, dann ist es die Pflicht einer Firma mit Selbstachtung, sich von einem solchen Staat zu distanzieren.«

So reagiert der Westen

Die US-Regierung bezeichnet die Leichenfunde als »abscheulich«: »Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen«, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag. »Es ist absolut verdorben und brutal.«

Es werde immer offensichtlicher, wozu der russische Präsident Wladimir Putin und seine Soldaten fähig seien, sagte er. Die US-Regierung werde weiterhin die Bemühungen unterstützen, russische Kriegsverbrechen und Gräueltaten zu dokumentieren, um schließlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.

Das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) kündigte die Entsendung eines Teams nach Isjum zur Prüfung der ukrainischen Vorwürfe an. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) forderte ebenfalls Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Die Kriegsverbrechen dürften und würden »nicht ungesühnt bleiben«.

Ukrainische Einsatzkräfte suchen bei den Gräbern in Isjum nach Minen

Ukrainische Einsatzkräfte suchen bei den Gräbern in Isjum nach Minen

Foto: Juan Barreto / AFP

Das sagt Moskau

Vom Kreml ist bislang keine öffentliche Äußerung zu den Funden in Isjum bekannt. Präsident Wladimir Putin erklärte aber trotz der Niederlage in Charkiw, Russland wolle die Ostukraine weiter angreifen. »Unsere Offensivoperationen im Donbass werden nicht ausgesetzt, sie gehen in geringem Tempo voran«, sagte Putin. »Die russische Armee nimmt immer neue Gebiete ein«, behauptete er. Der Kremlchef warf der Ukraine zudem Anschlagsversuche gegen russische Atomkraftwerke vor und drohte, wenn sich die Lage nicht ändere, werde die Antwort »härter« ausfallen als vorherige Gegenschläge.

Bundeswehrverband: Keine Abgabe aus Truppenbeständen an Ukraine mehr

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat erneut betont, wie wichtig moderne westliche Waffen für den militärischen Erfolg der Ukraine sind. Doch der Deutsche Bundeswehrverband warnt angesichts der Debatte über Panzerlieferungen vor einer »Kannibalisierung unserer Truppe«: »Wir verstehen den Wunsch der Ukraine nach schweren Waffen nur zu gut. Wir können uns vorstellen, beispielsweise Schützenpanzer aus den Beständen der Industrie abzugeben«, sagte Verbandschef André Wüstner dem Redaktionsnetzwerk Deutschland . »Was aus unserer Sicht als Berufsverband allerdings nicht mehr geht, ist die Abgabe von Waffen und Munition der Bundeswehr. Jede einzelne Lieferung führt zu einer Schwächung der Bundeswehr.«

Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte dem »Mannheimer Morgen« : »Das, was der Ukraine militärstrategisch bisher gelungen ist, war nur möglich, weil die Ukraine die entsprechenden Waffen aus dem Westen geliefert bekam.« Nun müsse weiteres Material folgen – unter anderem auch der Schützenpanzer Marder, »mit dem die ukrainische Armee nachrücken und gezielt russische Stellungen bekämpfen könnte«.

Am Donnerstag hatte die Bundesregierung angekündigt, es würden der Ukraine zwei weitere Mehrfachraketenwerfer Mars II sowie 50 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo überlassen. Zudem würden 200 Raketen geliefert. Der bewaffnete Radtransporter Dingo dient für Patrouillen- und Spähfahrten.

Was am Samstag wichtig wird

In dem von der russischen Besatzung befreiten Gebiet Charkiw gehen die Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen weiter. Dutzende Einsatzkräfte sind dort im Einsatz, um die Leichen zu bergen. Der ukrainische Präsident Selenskyj kündigte an, dass er die Arbeit der Rettungskräfte am Samstag zu ihrem offiziellen Ehrentag besonders würdigen wolle. Sie hätten Tausende Leben gerettet und sorgten für die Sicherheit aller Ukrainer.

Zugleich hat Russland ungeachtet der Niederlage im Gebiet Charkiw eine Fortsetzung der Kampfhandlungen ankündigt, bis alle Ziele erreicht seien.

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ptz/dpa
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