Virus-Panik in der Ukraine Angst essen Mitgefühl auf

Ankunft der evakuierten Ukrainer aus Wuhan am Flughafen Charkiv
Foto: Igor Chekachkov/ APMitgefühl ist in Zeiten der Not eine knappe Ressource. Wie knapp, das hat man in diesen Tagen in der Ukraine gesehen. "Wir Ukrainer", so hat es der Staatschef Wolodymyr Selenskyj beschämt formuliert, zeigten gerade "bei Weitem nicht die beste Seite unseres Charakters." Ausgerechnet am Jahrestag der Maidan-Revolution, wenn der in Kiew Erschossenen gedacht wird, hat sich die Gesellschaft als besonders unsolidarisch gezeigt.
Der Vorfall, um den es geht, trug sich am Donnerstagabend in der Region Poltawa in der Zentralukraine zu. Einwohner des Dorfes Nowi Sanschary protestierten dort gegen die Anreise von Mitbürgern, die die Regierung aus dem chinesischen Wuhan evakuiert hatte. Zwar zeigten die 72 Evakuierten - darunter 45 Ukrainer - keine Anzeichen einer Infektion mit dem Coronavirus, hieß es. Aber zur Sicherheit sollten sie für zwei Wochen in einem Gesundheitszentrum des Innenministeriums untergebracht werden.
Die Demonstranten zündeten Autoreifen an, sperrten die Zufahrt, rangelten mit der Polizei – und bewarfen sogar einen der sieben Autobusse mit Steinen. Die Heimkehrer mussten vor ihren eigenen Mitbürgern geschützt werden. Am Ende waren zehn Polizisten schwer verletzt, 24 Wutbürger wurden festgenommen.

Anwohner protestieren gegen die Unterbringung von Wuhan-Rückkehrern
Foto: MAKSYM MYKHAILYK/ AFPInnenminister Arsen Awakow nannte den Vorfall "eine Schande vor der ganzen Welt – diese Menschen waren 22 Stunden unterwegs, und so hat man sie begrüßt". Staatspräsident Selensky stellte seinen Landsleuten andere Länder als Vorbilder dar – er nannte Frankreich, wo man Evakuierte voller Mitgefühl empfangen habe, sowie Kasachstan, wo die ukrainische Maschine auf dem Weg aus Wuhan einen Zwischenhalt gemacht und einen kasachischen Evakuierten abgesetzt hatte. "Alle dankten und freuten sich, dass die Person daheim war."
Die Infektionsgefahr sei im Griff – nicht dagegen "die Gefahr, dass wir vergessen, dass wir alle Menschen sind, und Ukrainer." Tatsächlich ist in der Ukraine bisher keine einzige Infektion mit dem neuen Coronavirus bekannt.
Nowi Sanschary - das "Zentrum der Unmenschlichkeit"
Dennoch sind die Proteste in dem Ort kein Einzelfall. Auch in den Regionen Ternopol und Lemberg/Lwiw im Westen des Landes hatten Einwohner schon vorab gegen die Unterbringung von Landsleuten aus China protestiert. Ihre Angst hat auch mit dem Misstrauen gegen das eigene Gesundheitssystem zu tun. In dieser Woche waren E-Mails im Namen des Gesundheitsministeriums verschickt worden, in denen Fälle des Coronavirus in der Ukraine bestätigt wurden - obwohl es bislang keine gab. Der ukrainische Premierminister Oleksiy Honcharuk machte Desinformation für die Panik der Menschen im Land verantwortlich.
Um Angst und Misstrauen zu bekämpfen, hat sich die Gesundheitsministerin Sorjana Skalezka zu einem ungewöhnlichen, demonstrativen Schritt entschlossen: Sie werde die kommenden zwei Wochen mit den Evakuierten zusammen im abgesperrten Gesundheitszentrum von Nowi Sanschary verbringen, gab sie bekannt. "Ich hoffe, meine Anwesenheit beruhigt sowohl die Menschen in Nowi Sanschary wie den Rest des Landes." Wie sich der Aufenthalt mit ihren anderen Pflichten als Ministerin vereinen lässt, sagte sie nicht.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Selensky nutzt nun die Coronavirusepidemie, um besondere Menschlichkeit zu demonstrieren. Er rief persönlich eine Ukrainerin an, die in Wuhan verblieben war, weil ihr Hund nicht an Bord des Sonderfluges gelassen wurde.
Die Einwohner von Nowi Sanschary brauchen sich derweil um den Spott der Außenwelt nicht zu sorgen. In der russisch-sprachigen Version der Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde ihr Dorf am Freitag früh als "Zentrum der Unmenschlichkeit" eingeführt.
Proteste gegen die Einrichtung von Quarantänestationen gab es auch in Tscheljabinsk in Russland – das weit engere Kontakte zum Nachbarland China hat. Die russische Regierung schloss in der Nacht zu Donnerstag überraschend die Grenzen für alle chinesischen Staatsbürger.