Tag 201 des Kriegs Ukrainer rücken weiter vor, russische Kommentatoren wüten

Ein ukrainischer Soldat vor einem ausgebrannten russischen Panzer in Balaklija im Osten des Landes
Foto:Uncredited / dpa
Mehr als 20 Ortschaften im Süden und Osten – das ist die Bilanz der Rückeroberungen der ukrainischen Streitkräfte . Wohlgemerkt binnen 24 Stunden. Es gibt Berichte über russische Soldaten, die ihre Stellungen »fluchtartig verlassen« haben. Laut dem russischen Statthalter des Gebiets Charkiw, Witalij Gantschew, brachen ukrainische Truppen bis zur Grenze durch.
Der Grenzübergang zum russischen Belgorod sei inzwischen geschlossen, sagte Gantschew. Demnach überquerten ihn nach der am Samstag ausgerufenen Evakuierung mehr als 5000 Menschen. Angeblich Zivilisten. Angesichts der ukrainischen Erfolge und der damit einhergehenden Berichte nicht undenkbar, dass es auch russische Soldaten waren.
Was in den vergangenen Stunden geschah
Als Reaktion auf die Gegenoffensive gab es russische Luftangriffe auf kritische Infrastruktur in der Oblast Charkiw. Seit Sonntag kommt es wiederholt zu Stromausfällen in der Millionenstadt Charkiw, so auch wieder am Montag, nachdem die Stromversorgung eigentlich wiederhergestellt worden war. Auch die Wasserversorgung brach am Montag erneut zusammen.
Die russischen Angriffe auf Charkiw forderten auch mindestens ein Todesopfer. Am Abend berichtete Charkiws Bürgermeister Igor Terekjow laut Nachrichtenagentur Interfax von weiteren Angriffen auf Wohngebiete. Das russische Militär beschoss eigenen Angaben zufolge auch die Städte Kupjansk und Isjum, die strategisch wichtig sind und von Russland am Wochenende verloren gegeben wurden.
Erfolgsmeldungen kamen am Wochenende regelmäßig aus Kiew. 1000 Quadratkilometer seien eingenommen, hieß es zunächst, dann 2000 Quadratkilometer, dann 3000 Quadratkilometer – vor allem im Gebiet Charkiw. Der Zusammenbruch der russischen Frontlinie ließ die ukrainischen Streitkräfte tief in bisher feindlich besetztes Gebiet vorstoßen.
Weitere Sorgen dürfte Offiziellen im Kreml die Lage in Cherson bereiten. Eine Sprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee sagte am Montag, dass rund 500 Quadratkilometer befreit worden seien. Mehrere Ortschaften stünden wieder »vollständig unter ukrainischer Flagge«.
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Was angesichts der vergangenen Tage in Vergessenheit gerät: Ursprünglich hatte die ukrainische Armee Anfang September eine Gegenoffensive für den Süden um Cherson angekündigt . Vergangene Woche dann folgte eine Offensive im Nordosten um Charkiw, die Moskau und seine Truppen wohl gleichermaßen überraschte wie auch überforderte.
Was sind die Reaktionen?
Wie schlecht es gerade um die russischen Truppen steht, lässt sich angesichts der Stimmen aus dem Kreml vermuten : Dmitri Peskow, Sprecher von Kremlchef Wladimir Putin, erklärte, die russische Offensive (wenn man sie denn heute noch so nennen möchte) werde weitergehen, »bis ihre Ziele erreicht sind«. Es gebe derzeit »keine Aussicht auf Verhandlungen«.
Abgesehen davon, dass Kiew selbst Verhandlungen ablehnt, scheint die Kritik innerhalb Russlands so groß, dass Peskow offenbar die Fortsetzung der in Moskau sogenannten Spezialoperation infrage gestellt sah.
Seit den Berichten aus Charkiw wächst rund um den Kreml die Kritik. Jedoch nicht am Krieg selbst, sondern am Abschneiden der eigenen Truppen. Medienberichten zufolge forderten Abgeordnete aus 18 russischen Bezirken in Moskau, Sankt Petersburg und Kolpino in einer Petition den Rücktritt Putins. Der Kremlchef schade demnach »der Zukunft Russlands und seiner Bürgerinnen und Bürger«, wie Radio Free Europe berichtet.
Auch die Stimmung in den sonst so kremlfreundlichen staatlichen Medien war nicht so gut wie noch zu Beginn des Kriegs. Etwa in Talkshows und in Zeitungen gab es laut der Nachrichtenagentur Reuters auch kritische Stimmen. Die »Nesawissimaja Gaseta« schrieb etwa, das Verteidigungsministerium habe sich über mehrere Tage hinweg nicht zu den »extrem verstörenden Nachrichten aus der Ukraine« geäußert.
Wie ist die Lage am AKW Saporischschja?
Nicht nur in Charkiw gab es am Montag Probleme mit der Strom- und Wasserversorgung. Entsprechende Berichte kamen auch aus anderen Oblasten wie Donezk oder auch Saporischschja. Vor allem für letztgenannte Region, namensgebend für das in Enerhodar ansässige Atomkraftwerk, ist die Stromversorgung essenziell, ist sie doch für die Kühlung der Reaktorkerne und des Atommülls unverzichtbar.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, forderte deswegen erneut ein Ende der Kämpfe in Enerhodar. Es müsse eine einfach umzusetzende Sicherheitszone um das Kraftwerksgelände geben, sagte Grossi, man müsse sich darauf einigen, das AKW und die Umgebung nicht mehr zu beschießen. Den von der ukrainischen Seite verlangten Abzug der russischen Truppen schloss Grossi nicht in seine Forderung ein – aus offensichtlichen Gründen: Er will eine schnelle Lösung, bei der Kiew und Moskau mitziehen. Der Kreml würde aber niemals bei einer Waffenruhe mitmachen, wenn Grossi auch den Abzug fordern würde.
Und Deutschland?
Zum Kriegsbericht am Montag gehört auch die fortwährende Diskussion um westliche Waffenlieferungen . In einer Grundsatzrede sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zwar, wie wichtig es sei, die Ukraine zu stärken. Panzer für die Armee soll es aber weiterhin nicht geben. Lambrecht schob die Frage nach Lieferungen von schweren Waffen an die USA weiter, deutsche Alleingänge solle es nicht geben, darauf hätte man sich mit den Partnern geeinigt.
Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter kritisierte Lambrecht und die Bundesregierung für diese Haltung. »Die Grundsatzrede der Verteidigungsministerin offenbart vor allem eines: die Ablehnung jedweder Verantwortung und Führung in Europa«, sagte er dem SPIEGEL. Er warf der Bundesregierung eine Blockhadehaltung vor. Am Samstag etwa hatte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bei einer Pressekonferenz mit Annalena Baerbock erneut Kampfpanzer gefordert, um unter anderem weitere Gebiete zu befreien.