Der russische Angriffskrieg konzentriert sich seit Tagen verstärkt auf die Ostukraine. Das betrifft die Großstadt Kharkiv, wo der Beschuss anhält und schon bald ein Großangriff erwartet wird. Die Zahl der Todesopfer steigt täglich.
Das betrifft auch den Donbass, wie hier den kleinen Ort Sjewjerodonezk. Auch hier sorgen die russischen Angriffe für massive Zerstörung, die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal. Und trotzdem wollen längst nicht alle die Gefahrenzone verlassen.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL:
»Wir erleben jetzt den vierten Tag der Notfallevakuierung aus der Stadt Sjewjerodonezk, wenige Kilometer entfernt von den Frontlinien, die dringend geräumt werden sollten von den Bewohnern, die noch hier sind. Wir haben erlebt, wie Verschüttete geborgen und evakuiert wurden. Andere lagen im Gang des Busses und wären wahrscheinlich in den nächsten Tagen schlicht daran gestorben, dass es keinen Strom, keine Heizung, kein sauberes Wasser mehr gab. Wir haben Bettlägrige heruntergebracht, Querschnittsgelähmte. Aber insgesamt ist die Bilanz trotzdem durchwachsen, weil immer noch Tausende in dieser Stadt wie der Besitzer der Ruine hinter uns, der sich gerade in seinem Badezimmer im Erdgeschoss aufhielt, als eine ausgesprochen große Rakete den oberen Teil seines Haues zertrümmerte, sagen: Nein, nein, wir bleiben. Wir haben keinen Strom, kein Wasser, auch nicht mehr viel zu essen, aber wir wollen nicht weg, weil wir müssen ja auf unsere Häuser aufpassen und unsere Wohnungen.«
SPIEGEL-Reporter Christoph Reuter hat in den vergangenen 30 Jahren immer wieder aus Kriegsregionen berichtet, Schlimmes erlebt. Der Krieg in der Ukraine bedeutet aber selbst für ihn eine neue Form der Eskalation.
Vor allem der Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk am vergangenen Freitag, wo etliche Menschen darauf warteten, aus der Ostukraine fliehen zu können, machte Reuter fassungslos.
Christoph Reuter, DER SPIEGEL:
»Ich habe erlebt, wie es aussieht, wenn ein al-Qaida-Selbstmordattentäter sich auf einer Straßenkreuzung im Irak sprengt. Ich habe 2014 gesehen, was eine Fassbombe der syrischen Armee anrichtet in einer Gruppe von Tagelöhnern in Aleppo. Aber so etwas, dass eine europäische Regierung eine Rakete mit Splittergefechtskopf mitten in einen Bahnhof voller wartender Zivilsten feuert. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob man in Deutschland wirklich schon begriffen hat, welche Taktung des Grauens, welcher Horror hier in der Ukraine geschieht. Und ob man verstanden hat, dass jedes Zögern bei Waffenlieferungen, jedes Zögern bei der Verschärfung von Sanktionen diesen Vernichtungskrieg Russlands weitergehen lässt. Denn nichts anderes als ein Vernichtungskrieg ist es, was hier geschieht. Und ich bin mir nicht sicher, ob man wirklich das volle Ausmaß der unfassbaren Lügen aus Moskau wirklich begriffen hat. Denn von dort kam nach dem Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk nur die lapidare Meldung, man habe doch gar keine Rakete auf Kramatorsk geschossen.«