Russische Truppen auf dem Rückzug: Auf einer Pontonbrücke versuchen die Soldaten nahe der Stadt Cherson im Süden der Ukraine den Fluss Dnjepr zu überqueren. Russland will seine Invasionsarmee auf der Ostseite des Flusses neu gruppieren. Inzwischen soll die Antoniwkabrücke zum Teil gesprengt worden sein, wie auf diesen Videoaufnahmen zu sehen ist, die auf Twitter kursieren. Unklar ist, ob die ukrainische oder die russische Armee für die Beschädigung verantwortlich ist. Der Kreml gibt als offiziellen Grund für den Rückzug Versorgungsprobleme an. Und die kommen nicht überraschend.
Claudia Major: »Der Abzug der russischen Truppen aus Cherson kam eigentlich mit Ansage. Seit August haben die Ukrainer systematisch versucht, hinter die russischen Linien, beispielsweise Versorgungswege und Kommunikationslinien, Depots anzugreifen und die russischen Truppen damit zu schwächen. Und das hat offenbar funktioniert. «
Der russische Rückzug wurde Anfang der Woche im Staatsfernsehen verkündet. Dabei trat nicht Präsident Wladimir Putin vor die Kameras. Vielmehr mussten Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Kommandeur der russischen Streitkräfte die schlechten Nachrichten in einem Inszenierten Dialog verkünden.
Sergej Surowikin, Kommandeur der russischen Streitkräfte: »Nachdem ich die Situation umfassend analysiert habe, schlage ich vor, dass wir Verteidigungspositionen entlang des linken Ufers des Flusses Dnjepr einnehmen. Ich verstehe, dass das eine sehr schwierige Entscheidung ist. Aber gleichzeitig, werden wir vor allem das Leben unserer Truppen retten und die allgemeine Kampfkraft der Truppen erhöhen.«
Sergej Schoigu, Verteidigungsminister Russlands : »Fahren Sie mit dem Rückzug der Truppen fort und ergreifen Sie alle Maßnahmen, um den sicheren Transfer von Personal, Waffen und Ausrüstung über den Fluss Dnjepr zu gewähren.«
Major: »Die Ankündigung vom Verteidigungsminister mit dem militärischen Befehlshaber wirkt auf mich so, als sollte das als eine rein militärische Entscheidung geframed werden. Also etwas, womit Putin eigentlich nichts zu tun hat, sondern was auf rein militärischer Ebene stattfindet. Aus meiner Sicht ist der Verlust von Cherson – oder die Befreiung von Cherson aus ukrainischer Perspektive – eine große und schallende politische und militärische Niederlage für Russland. Ist es politisch eine Niederlage, oder politisch-symbolisch, weil Cherson die einzige große Provinzhauptstadt war, die sie sehr früh erobert hatten und seitdem gehalten hatten und die sie auch im Rahmen dieser Fake-Referenden und Pseudo-Annexionen jetzt in Russland eingegliedert haben. Das ist ein bekanntes Beispiel dafür, dass Russland die von ihm beanspruchten Gebiete nicht kontrollieren kann. Also politisch symbolisch ist das wirklich ein Verlust, eine Demütigung sondergleichen.«
Im September hat Russlands Machthaber Wladimir Putin in Moskau die Annexion der Region Cherson und drei weiterer ukrainischer Regionen verkündet.
Putin: »Die Menschen, die in Cherson leben, sind unsere Bürger geworden. Für immer.«
Mittlerweile hat das russische Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass der Rückzug der eigenen Truppen aus Cherson abgeschlossen sei. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte auf den russischen Rückzug verhalten. Der Feind mache keine Geschenke, sagte er in einer Ansprache am Mittwoch. Einige ukrainische Stellen sprachen bereits von einer möglichen Falle.
Major: »Momentan deutet sehr viel darauf hin, dass es tatsächlich der Versuch eines geordneten Rückzugs ist, um einem ukrainischen Einschließen zu entgehen. Darauf deutet hin, dass seit Oktober die Zivilbevölkerung der Stadt deportiert, teilweise offenbar auch freiwillig gegangen ist, dass die russische Besatzungsverwaltung abgezogen ist und auch die Fahne eingeholt worden ist. Dass es Berichte über Plünderungen durch russische Soldaten gibt, die alles mitnehmen, was irgendwie geht, dass auch schon zunehmendes russisches militärisches Gerät verlegt worden ist.«
Vor ihrem Abzug sollen die russischen Soldaten noch große Teile des Gebiets vermint haben. Zusätzlich wurden Teile der Infrastruktur zerstört.
Major: »Der Kampf um Cherson ist nicht vorbei mit diesem angekündigten Rückzug. Wir haben aus Moskau bislang keinerlei Anzeichen gesehen, dass es seine Ziele oder seine Linie mit Blick auf die Ukraine verändert hat. Also wir haben bislang keine Distanzierung von dem Ziel gesehen, dass die Ukraine denazifiziert werden müsste. Russland steht immer noch zu der Annexion dieser Region. Das heißt, es hat ein Teil des ukrainischen Staatsterritoriums einverleibt. Das heißt, ich sehe momentan keinerlei Anzeichen dafür, dass Russland freiwillig die Ukraine verlassen würde. Sondern wir müssen davon ausgehen, dass es die weiteren besetzten Gebiete verteidigen wird. Und sobald es wieder in einer besseren Situation ist, auch versuchen wird, wieder die Gebiete, die es in den Fake-Referenden annektiert hat, wahrscheinlich auch wieder zurückzuerobern.«