Konservative Familienpolitik in Ungarn Flucht nach Berlin

Premier Viktor Orbán hetzt gegen Schwule, Lesben und andere, die nicht dem konservativen Familienideal nacheifern – die Mathematikerin und Softwareentwicklerin Ivett Ördög ist deshalb geflüchtet.
Ivett Ördög (r.) und ihr Lebensgefährte Atanáz Tálos: »In Ungarn zerstören sie Menschen wie uns«

Ivett Ördög (r.) und ihr Lebensgefährte Atanáz Tálos: »In Ungarn zerstören sie Menschen wie uns«

Foto: Keno Verseck

Bei ihrer Geburt war Ivett ein Junge. Aber so weit sie zurückdenken kann, fühlte sie sich unter Mädchen wohler. Oft wollte sie selbst eines sein. Wenn sie sich betrachtete, fand sie, dass ihre Gesichtszüge, ihr Körper, ihre Hände wenig jungenhaft waren. Es wunderte sie. Aber ihre Fragen behielt sie für sich.

Einmal, da war sie schon ein Jugendlicher, sah sie zusammen mit ihren Eltern im Fernsehen eine Transvestitin, die über ihr Leben berichtete. Die Sendung war für sie eine Offenbarung. Dann könnte also auch ich Frauenkleider tragen, dachte sie freudig. Der Vater neben ihr verzog vor Abscheu sein Gesicht und sagte: »Widerwärtig.«

Heute ist Ivett Ördög vierzig Jahre alt – und eine Frau. Es ist eine schmerzvolle Biografie, hin und her pendelnd zwischen zaghaften Versuchen der Selbstfindung und permanenter Selbstunterdrückung, vor den Eltern, vor Freunden und in einer langjährigen Ehe als Mann. Die Mathematikerin und promovierte Informatikerin brauchte fast ihr ganzes bisheriges Leben, um zu erkennen, wer sie ist und sein möchte.

Vor zwei Jahren machte sie in Budapest eine Hormontherapie und eine Geschlechtsangleichung.

Orbáns konservative Kampagne

Nach ihrer privaten Odyssee muss sie nun noch ein politisches Drama erleben: Ungarns Premier Viktor Orbán und seine Regierung haben sie mit einer immer schärferen Politik gegen nicht heterosexuelle Menschen aus ihrer Heimat Ungarn getrieben. Seit August wohnt Ivett Ördög in Berlin – ein selbst gewähltes, aber nicht freiwilliges Exil. »Es gab in Ungarn keine Lebensperspektive mehr für mich«, sagt sie. »Ich habe auch keinerlei Vertrauen mehr in den dortigen Staat.«

Lange Zeit spielten nicht heterosexuelle Menschen eher eine Nebenrolle in Orbáns Ideologie. Das änderte sich vor zwei Jahren, als die ungarische Regierung das Fach Genderstudien  an Universitäten verbot. Seitdem nimmt die Anti-LGBTQ-Politik in Ungarn immer drastischere Züge an.

  • Im Mai dieses Jahres verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die amtliche Änderung des Geburtsgeschlechts verbietet. Damit können Personen nach einer Geschlechtsangleichung ihre Namen in offiziellen Dokumenten nicht mehr ändern lassen. Das Gesetz steht im Widerspruch zu mehreren früheren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dessen Urteile auch für Ungarn bindend sind.

  • Im Oktober dieses Jahres verglich Viktor Orbán Homosexuelle mit Pädophilen . Die Ungarn seien tolerant und geduldig mit Homosexuellen, sagte Ungarns Premier in einem Interview. Es gebe aber eine »rote Linie« – »sie sollen unsere Kinder in Ruhe lassen«.

  • In der vergangenen Woche verabschiedete das Parlament mehrere Verfassungsänderungen, die gegen nicht heterosexuelle Menschen gerichtet sind. So heißt es in einem Artikel über die Institution der Ehe und der Familie nun: »Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.« Damit besitzen gleichgeschlechtliche Paare kein Adoptionsrecht mehr.

Für Ivett Ördög gab das Gesetz vom Mai den Ausschlag, Ungarn zu verlassen. Sie hatte im vergangenen Jahr beantragt, ihren Vornamen in Ivett ändern zu können. Mit Verweis auf das neue Gesetz wurde ihr Antrag abgelehnt. Für sie bedeutete das: Nach ihrer Geschlechtsangleichung hätte sich ihr Spießrutenlauf im Alltag endlos fortgesetzt.

»Auf der Straße hatte ich kaum Probleme, weil ich sehr eindeutig als Frau erkennbar bin. Aber bei jeder Ausweiskontrolle, jedem Gang zur Post und zur Bank musste ich ständig erklären, dass ich keine Betrügerin bin«, erzählt Ivett Ördög. »Einmal wollte ein Einlasser eines Musikfestivals die Polizei rufen. Erst nach einer Diskussion mit seinem Chef wurde ich eingelassen.«

Neues Leben in Deutschland

Auch in einer Budapester Softwarefirma, in der sie arbeitete, gab es Probleme. Als sie nach ihrer Geschlechtsangleichung begann, die Frauentoilette zu benutzen, beschwerten sich Arbeitskollegen hinter ihrem Rücken. Der Personalleiter wollte ihr deshalb ein gesondertes WC zuweisen. Sie kündigte.

Dennoch hat Ivett Ördög für die Mehrheit ihrer Landsleute eher wohlmeinende Worte übrig. »Die meisten Ungarn sind nicht viel feindlicher gegenüber uns eingestellt als anderswo«, sagt sie. »Es ist die Politik Orbáns und seiner Regierung, die so extrem ist.«

In Berlin fand Ivett Ördög im August eine Arbeit als Leiterin eines Softwareentwicklerteams in einer privaten Firma. Auch ihr Lebensgefährte Atanáz Tálos, ebenfalls ein Transmensch, zog mit ihr. Das Paar bekam schnell amtliche deutsche Zusatzausweise, die sie als Transpersonen kenntlich machen.

Ivett Ördög hat den ungarischen Staat inzwischen doppelt verklagt: wegen der Ablehnung ihres Antrags auf Namensänderung und wegen der Missachtung von EGMR-Urteilen. Doch selbst wenn die Verfahren zu ihren Gunsten ausgehen – einen Weg zurück in ihre Heimat sieht sie nicht. »In Ungarn«, sagt sie, »zerstören sie Menschen wie uns.«

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