Fotos der Opfer des Völkermordes von 1994, ausgestellt im Kigali Genocide Memorial

Fotos der Opfer des Völkermordes von 1994, ausgestellt im Kigali Genocide Memorial

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Uno-Ermittler zum Völkermord in Ruanda 1994 Herrn Brammertz' letzter großer Fall

1994 ermordeten Hutu-Extremisten in Ruanda mit Knüppeln und Macheten mehr als 800.000 Tutsi. Eine Uno-Einheit spürt bis heute die flüchtigen Täter auf – es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Aus Kigali, Ruanda, berichtet Heiner Hoffmann
Globale Gesellschaft

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Forduard Maniraguha wollte Gott dienen, so wie seine Eltern es sich gewünscht hatten. Mit 14 wurde er zum Assistenten des Priesters, zum Messdiener und Laufburschen. Doch im April 1994 gab es keinen Gott mehr in Maniraguhas Heimatdorf Nyange. Der Jugendliche wurde zum Zeugen eines Massakers, begangen in seiner Kirche. Sein Chef, der Priester, wurde zum Täter.

Seit Tagen hetzten bereits im Radio Hutu-Extremisten gegen die Tutsi-Minderheit im Land, verunglimpften sie als »Kakerlaken«. In den Städten und Dörfern zogen Horden mit Macheten los, in ihren Augen der blanke Hass. Über Tage, Wochen und Monate töteten radikale Hutu rund 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu, die sich weigerten mitzumachen – die orchestrierte Mordlust wuchs sich zu einem furchtbaren Verbrechen der Menschheitsgeschichte aus.

Forduard Maniraguha arbeitete 1994 als Messdiener, wurde Zeuge eines Massakers

Forduard Maniraguha arbeitete 1994 als Messdiener, wurde Zeuge eines Massakers

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Auch das Dorf Nyange blieb davon nicht verschont. Mehr als 2000 Tutsi suchten dort ab dem 6. April 1994 Zuflucht im Gotteshaus, in Forduard Maniraguhas Wirkungsstätte. Der Priester – ein Hutu – versprach, sie zu schützen. Er erstellte Listen der Anwesenden, es waren in Wirklichkeit Todeslisten. »Ich habe mitbekommen, wie sie das Gemetzel gezielt vorbereitet haben«, erinnert sich Messdiener Maniraguha. Sie: Das sind vor allem der Priester und neben ihm der örtliche Polizeiinspektor, Fulgence Kayishema.

Was in den folgenden Tagen passierte, ist gut dokumentiert: Mit Handgranaten, nagelbesetzten Knüppeln und Macheten griffen die militanten Hutu unter Führung von Kayishema wieder und wieder die Kirche an. Am Ende waren 2000 Tutsi tot, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. »Als sie gemerkt haben, dass immer noch welche leben, haben sie einen Bulldozer organisiert und die Kirche plattgemacht«, erinnert sich Messdiener Maniraguha. Die Bilder dieser Tage im April vor 28 Jahren lassen ihn noch immer nicht schlafen. Bis heute schaut er regelmäßig über seine Schulter, auch während des Interviews in einem Café in Kigali.

Maniraguha ist selbst Hutu, deswegen verschonten ihn die Täter. Inzwischen hat er als Zeuge in mehreren Gerichtsverfahren gegen den Priester und den Polizeiinspektor ausgesagt, auch vor dem zuständigen Uno-Völkermordtribunal in Arusha. Doch Frieden kann er bis heute nicht finden – denn der Hauptverdächtige Kayishema ist noch immer auf freiem Fuß, flüchtig seit dem Ende des Genozids. »Er ist ein Killer, ein Monster, er hat das Morden organisiert und selbst kaltblütig gemordet«, sagt Maniraguha.

Fahndungsbild, mit dem auch Fulgence Kayishema gesucht wird: »Er ist ein Killer, ein Monster, er hat das Morden organisiert und selbst kaltblütig gemordet«

Fahndungsbild, mit dem auch Fulgence Kayishema gesucht wird: »Er ist ein Killer, ein Monster, er hat das Morden organisiert und selbst kaltblütig gemordet«

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

»Er ist inzwischen unsere Top-Priorität«, sagt Serge Brammertz. Der Belgier leitet eine achtköpfige Uno-Einheit, deren Aufgabe es ist, die letzten Flüchtigen aus Ruanda aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. »Tracking Unit« heißt seine Fahndungstruppe, der SPIEGEL hat die Ermittler eine Woche lang in der ruandischen Hauptstadt Kigali begleitet.

Die Bilanz der Fahnder kann sich durchaus sehen lassen. Seit Brammertz die Einheit im Jahr 2016 übernommen hat, wurden fast alle Gesuchten aufgespürt, unter ihnen auch Félicien Kabuga, der mutmaßliche Finanzier des Genozids. Er war mehr als 25 Jahre lang auf der Flucht.

Vergangene Woche verkündeten die Ermittler den nächsten Durchbruch: Sie fanden den Leichnam von Protais Mpiranya, vergraben unter falschem Namen irgendwo in Simbabwe. Die handgemalte Skizze seines Grabsteins, eingescannt und hochgeladen auf dem Computer eines Angehörigen, hatte die Fahnder auf diese Spur geführt. »Die Angehörigen seiner Opfer haben jetzt Gewissheit, dass er keinen Schaden mehr anrichten kann«, sagt Serge Brammertz. Nun ist Fulgence Kayishema die neue Nummer 1 auf der Fahndungsliste. Man könnte auch sagen: Es ist ihr letzter großer Fall.

Chefankläger Serge Brammertz während eines Meetings seines Team in Kigali

Chefankläger Serge Brammertz während eines Meetings seines Team in Kigali

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Der Dienstsitz der Uno-Ermittler befindet sich in einem Anwesen auf einem Hügel, wo vorher ein ehemaliger Bürgermeister von Kigali lebte. Draußen im Pool ist kein Wasser mehr, er wirkt ziemlich trostlos. Ringsherum weiße Bürocontainer. Im ehemaligen Wohnzimmer des Politikers steht heute ein riesiger Konferenztisch, an der Wand hängt ein überdimensionierter Monitor.

Hier schalten sie sich zusammen: das Team aus Kigali, aus Den Haag, aus dem tansanischen Arusha. Das sind die drei Standorte des sogenannten Residualmechanismus, so nennt sich die verbliebene Truppe aus Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern, die das unfassbare Verbrechen des Genozids in Ruanda aufarbeiten soll. Früher waren es mal Hunderte, ein ganzes Uno-Tribunal, doch je öfter der Völkermord sich jährte, desto kleiner wurde das Budget.

Baucontainer neben einem leeren Pool: Der Dienstsitz der Uno-Ermittler in Kigali

Baucontainer neben einem leeren Pool: Der Dienstsitz der Uno-Ermittler in Kigali

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

»Wir dürfen auch fast 30 Jahre nach dem Völkermord nicht damit aufhören, Verdächtige aufzuspüren und vor Gericht zu bringen«, sagt Chefankläger Serge Brammertz mit zorniger Stimme. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Viele mutmaßliche Täter sind, wie Félicien Kabuga, inzwischen alt und gebrechlich, andere wie Protais Mpiranya längst verstorben.

Ein Mal pro Woche konferieren die Ermittler über ihre großen Monitore, dann geht es um »Persons of Interest«, um Kontaktpersonen der Flüchtigen, um Bewegungsprofile, um Telefonverbindungen. Viel schreiben darf der SPIEGEL über die Details der Ermittlungsarbeit nicht, aber der leitende Fahnder Ewan Brown sagt: »Das meiste ist unglamouröse analytische Arbeit. Der Rest ist Kreativität.«

Serge Brammertz, im deutschsprachigen Teil Belgiens geboren, hat seit Jahrzehnten mit furchtbaren Verbrechen der Menschheit zu tun. Als Bundesstaatsanwalt in Brüssel hat er bereits Fälle aus Ruanda vor Gericht gebracht, Ende der 1990er-Jahre war das. »Die Zeugenaussagen von damals habe ich noch immer im Kopf. Die Täter haben ihre Opfer nicht als Menschen gesehen, sondern als Ungeziefer. Das Töten war aus ihrer Sicht eine Arbeit wie jede andere«, sagt Brammertz.

Schädel der Opfer des Völkermordes, ausgestellt im Genocide Memorial in Kigali

Schädel der Opfer des Völkermordes, ausgestellt im Genocide Memorial in Kigali

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Bis vor Kurzem hat der 60-Jährige auch die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien aufgearbeitet, den Völkermord von Srebrenica. Er hat Radovan Karadžić und Ratko Mladić dingfest gemacht und vor Gericht gebracht. Oft hat Brammertz im Gerichtssaal Beschuldigten in die Augen geblickt, die für unvorstellbare Gräueltaten verantwortlich waren. Wie fühlt es sich an, das vermeintlich Böse? »Manche waren charismatisch, eloquent. Vor Gericht nutzten sie die gleiche Rhetorik, mit der sie ihre eigene Bevölkerung manipuliert hatten«, sagt der Staatsanwalt. Reue hat er bei ihnen nie spüren können.

Inzwischen sind die letzten Jugoslawien-Verfahren abgeschlossen, jetzt konzentriert sich Brammertz auf Ruanda. Irgendwann werden sie seine Einheit ganz dicht machen, das weiß er natürlich. In die Villa mit dem Pool ohne Wasser wird vielleicht eine Nichtregierungsorganisation einziehen, davon gibt es schon viele in der Nachbarschaft. Doch bis dahin will Brammertz wenigstens seine Fahndungsliste abarbeiten.

Uno-Chefankläger Serge Brammertz im Kigali Genocide Memorial

Uno-Chefankläger Serge Brammertz im Kigali Genocide Memorial

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Als der Uno-Ermittler die Einheit 2016 übernommen hat, gab es noch ein Netzwerk von 85 Informantinnen und Informanten mit beachtlichem Einkommen. Weil sie dafür auch etwas liefern mussten, wurden die Flüchtigen angeblich mal in England gesehen, am Tag darauf in Kenia, später wieder in Frankreich. Nichts davon stimmte. »Ich habe die Zusammenarbeit mit allen außer einer Handvoll beendet«, sagt Brammertz. Seither konzentrieren sich die Ermittler eher auf Daten: Was war der letzte bekannte Aufenthaltsort der Gesuchten? Wer ist mutmaßlich noch mit ihnen in Kontakt?

So konnten sie im vergangenen Jahr Félicien Kabuga schnappen, den mutmaßlichen Geldgeber des Völkermordes. Die Ermittler hatten sich aus mehreren Ländern Telefondaten von Angehörigen Kabugas kommen lassen. Sie analysierten, wer von ihnen zu welchem Zeitpunkt in bestimmte Funkzellen eingeloggt war. »Allein für sich genommen waren die Daten wertlos. Aber als wir sie übereinanderlegten, stellten wir fest: Alle engen Verwandten waren nacheinander am selben Ort in Paris«, erinnert sich Brammertz.

Dann ließen sie sich Mietverträge kommen, observierten, und tatsächlich: Am 16. Mai 2020 klickten in Paris die Handschellen. Seither sitzt Kabuga in Den Haag hinter Gittern und wartet auf den Beginn seines Verfahrens. Brammertz' Augen leuchten, wenn er vom Tag der Verhaftung erzählt. Niemand hätte mehr mit diesem Erfolg gerechnet, 26 Jahre nach dem Genozid.

Wütend wird Brammertz, wenn seine Ermittler in anderen Ländern mal wieder auf Granit beißen. In Südafrika zum Beispiel, wo seine Einheit 2019 den Flüchtigen Fulgence Kayishema aufgespürt hatte. In Kapstadt genoss der ein nettes Leben im Kreise seiner Familie, wie die Ermittler herausfanden. Doch als sie ein Auslieferungsersuchen stellten, wurde das abgelehnt.

Erst nach monatelangem Hin und Her stimmten die südafrikanischen Behörden einer Festnahme zu, stürmten die Wohnung des Gesuchten. Natürlich war der längst über alle Berge. »Das hat mich wirklich maßlos geärgert«, sagt Brammertz. Im Uno-Sicherheitsrat macht er seither seinem Ärger Luft, jedes Jahr aufs Neue.

Vor wenigen Wochen war der Staatsanwalt mit seinen Leuten wieder einmal in Südafrika, es ist jetzt immerhin etwas Bewegung in die Sache gekommen, die südafrikanischen Behörden wollen ein Ermittlerteam zusammenstellen. Allerdings müssen die Fahnder wieder von vorne anfangen, denn Kayishema bleibt seit der fehlgeschlagenen Festnahme untergetaucht. »Wir gehen aber davon aus, dass er noch in der Region ist, das macht es etwas einfacher«, hofft Brammertz.

Blick auf Kigali, Ruandas Hauptstadt

Blick auf Kigali, Ruandas Hauptstadt

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL
Straßenszene in Kigali: 800.000 Menschen verloren 1994 ihr Leben – und einige Täter sind noch immer auf freiem Fuß

Straßenszene in Kigali: 800.000 Menschen verloren 1994 ihr Leben – und einige Täter sind noch immer auf freiem Fuß

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Sein nächster Termin in Kigali beginnt mit einer Schweigeminute. IBUKA, die Vereinigung der Genozidüberlebenden, hat ihn eingeladen, zu einer Gedenkstätte am Rande Kigalis. Hierhin wurden 1994 Hunderte spätere Opfer getrieben, nachdem die Uno-Friedenstruppen das Land fluchtartig verlassen hatten. »An diesem Ort wurde ein Teil meiner Familie abgeschlachtet«, sagt Égide Nkuranga, Vorsitzender von IBUKA.

»Hier zeigt sich, wie kläglich die internationale Gemeinschaft damals versagt hat«, sagt Serge Brammertz. Dann führt ihn Nkuranga in einen Kellerraum, vollgestellt mit weißen Tischen, auf ihnen ausgebreitet historische Dokumente aus den Jahren nach dem Genozid. Ein Team aus Wissenschaftlern sortiert den Berg aus losen Zetteln und vergilbten Heften, sie sollen digitalisiert und im Internet veröffentlicht werden. Brammertz weist seine Mitarbeiter an, selbst nach möglichen Beweisstücken zu suchen.

Dokumente des Grauens: Forscher durchsuchen Unterlagen und Schulhefte aus der Zeit nach dem Genozid

Dokumente des Grauens: Forscher durchsuchen Unterlagen und Schulhefte aus der Zeit nach dem Genozid

Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL

Auf einem Tisch sind Hefte von Schülerinnen und Schülern gestapelt, mit Gummihandschuhen blättern die Forscher sie durch. Sie stammen aus dem Jahr 1994, die Kinder sollten damals aufschreiben, wie sie das Grauen erlebt haben. »Sie holten meinen Vater mitten in der Nacht ab, töten ihn auf sehr brutale Weise und schmissen seine Leiche in eine Latrine«, schrieb ein siebenjähriger Junge. Der Tisch ist voll solcher Geschichten.

Oben schlägt im kleinen, prall gefüllten Konferenzraum der Gedenkstätte die Stimmung um, die Überlebenden wollen wissen, wie der Stand der Dinge ist. Sie verstehen nicht, warum der Gerichtsprozess gegen Félicien Kabuga noch immer nicht begonnen hat, warum Fulgence Kayishema weiterhin auf freiem Fuß ist. Denn auch die Überlebenden des Völkermordes wissen: Es bleibt nicht mehr viel Zeit.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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