Uno-Bericht 82 Millionen Menschen sind aus ihrer Heimat vertrieben

Flüchtingscamp im Sudan: Diese äthiopischen Geflüchteten haben ihre Heimat aufgrund der Konflikte in der Region Tigray verlassen
Foto:Mahmoud Hjaj / Anadolu / Getty Images

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Im Jahr 2020 waren knapp 82,4 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Das geht aus dem neuen Bericht des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor, der dem SPIEGEL vorab vorliegt. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Organisation von einem Rekordwert berichtet. Dieser wurde nun, trotz Pandemie und weltweit lange geschlossener Grenzen, noch einmal gebrochen.
Bis Dezember 2020 verließen laut dem Bericht 30,3 Millionen Menschen ihre Heimatländer. Hinzu kommen 48 Millionen Binnenvertriebene – Menschen also, die in ihren eigenen Ländern auf der Flucht sind. Vor allem durch die Krisen im Jemen, Äthiopien, dem Sudan, den Sahel-Ländern, Mosambik, Afghanistan und Kolumbien stieg die Zahl von Vertriebenen im eigenen Land um mehr als 2,3 Millionen. Die Zahl Asylsuchender blieb im Vergleich zu 2019 gleich: Sie liegt bei 4,1 Millionen.
Migrationsforscher Gerald Knaus plädiert im SPIEGEL für eine genaue Einordnung des UNHCR-Berichts
Neben Kriegen und Konflikten waren es vor allem Hungersnöte, extreme Wetterbedingungen und Folgen der Klimakrise wie Dürre, Stürme oder Überschwemmungen, die Menschen veranlassten, ihre Heimat zu verlassen. Hinzu kommen wirtschaftliche Nöte durch die Pandemie, die an vielen Orten der Welt die Armut noch verschlimmerte. Oft, schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie, sei es eine Mischung aus diesen Faktoren, die Menschen dazu bringe, zu fliehen.
42 Millionen Kinder und Jugendliche auf der Flucht
»Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Mensch, der aus seiner Heimat vertrieben wurde, und ein Schicksal von Flucht, Entwurzelung und Leid«, sagt Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi, dessen Organisation seit mehr als 70 Jahren die Zahl von Flüchtlingen weltweit ermittelt.
Im Jahr 2010 zählte das UNHCR rund 40 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, inzwischen hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Besonders die Fälle von Binnenvertreibung haben durch die Kriege in Syrien, dem Südsudan und im Jemen drastisch zugenommen. »Die Frage ist nicht mehr, ob die Zahl der Vertriebenen 100 Millionen Menschen überschreiten wird – sondern wann«, schreiben die Autorinnen in dem Bericht.
Der Berliner Migrationsforscher Gerald Knaus weist darauf hin, die 82 Millionen Flüchtlinge und Migranten aus dem UNHCR-Bericht müssten unbedingt eingeordnet werden. Bei den Millionen Flüchtenden seien unterschiedlichste Schicksale zusammengefasst. So zählten Nachfahren von palästinensischen Flüchtlingen, die längst als jordanische Staatsbürger in Jordanien leben, genauso darunter wie Rohingya, die aus Myanmar nach Bangladesch flüchteten oder Eritreer, die in Schweden als Flüchtlinge eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung haben.
»Wie der UNHCR über Geflüchteten-Zahlen spricht, spielt leider auch jenen in die Hände, die vor nicht existierenden Massenmigrationen warnen«, sagte Knaus dem SPIEGEL. Die Zahl der Menschen, die tatsächlich Flüchtlinge seien, schätzt er auf 20 Millionen. Diese Zahl sei zwar zuletzt gestiegen. Ein Großteil der Menschen, auf die der Anstieg zurückgehe, befinde sich aber heute bereits in der EU oder in der Türkei. »Gäbe es mehr Hilfe für Erstaufnahmeländer und mehr Resettlement von Flüchtlingen, wie vor vierzig Jahren, wäre diese Not zu lindern«, so Knaus.
UNHCR-Flüchtlingskommissar Grandi indes weist auf die hohe Zahl an Kindern und Jugendlichen hin, die auf der Flucht geboren werden oder unter ihr aufwachsen. 42 Prozent der Vertriebenen, fast die Hälfte, sind Mädchen und Jungen unter 18 Jahren. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass fast eine Million Kinder zwischen 2018 und 2020 als Flüchtlinge geboren wurden. Die Mädchen und Jungen haben oft wenig Chancen, an einer Schule zu lernen, medizinisch ausreichend versorgt zu werden oder unter kindgerechten Bedingungen aufzuwachsen.
Viele bräuchten Traumatherapien, um Erlebtes zu verarbeiten. Die Organisation »Save the Children« etwa gab vor Kurzem bekannt , es gebe einen Anstieg an Suizidversuchen in den Flüchtlingscamps im Norden Syriens. Einer von fünf Fällen in der Statistik betreffe ein Kind.
Einen Überblick zu den Zahlen des Reports finden Sie in den Grafiken. Hier lesen Sie eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte:
Die meisten Geflüchteten weltweit kommen aus Syrien. 6,7 Millionen Menschen haben das Bürgerkriegsland bis Ende 2020 verlassen. Weitere 1,7 Millionen Frauen, Männer und Kinder leben zusätzlich als Vertriebene in dem Land; in der Region Idlib und im Norden Syriens in Zelten und Camps. Auch aus Venezuela (4,0 Millionen), Afghanistan (2,6 Millionen), dem Südsudan (2,2 Millionen) und Myanmar (1,1 Millionen) sind besonders viele Menschen geflohen.
86 Prozent der Geflüchteten werden von Staaten mit niedrigen bis mittleren Einkommen aufgenommen, oft grenzen diese Empfängerländer direkt an Kriegs- und Krisengebiete. Die Türkei nahm erneut weltweit am meisten Geflüchtete auf: 3,7 Millionen Menschen insgesamt, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland.
Auszug aus dem UNHCR-Bericht
Neben der Lage in Syrien war erneut das Chaos im politisch und wirtschaftlich zerrütteten Venezuela für sehr viele Menschen ein Grund zu fliehen. Die Zahl geflüchteter Venezolanerinnen und Venezolaner auf dem amerikanischen Kontinent stieg um acht Prozent: Etwa 4,6 Millionen sind geflüchtet – nach Brasilien, Mexiko, Peru und vor allem Kolumbien, das mehr als 1,7 Millionen Menschen beherbergte.
Auf dem afrikanischen Kontinent führten der Konflikt in Bundesstaat Tigray in Äthiopien, wo die Bevölkerung neben Gewalt mit einer großen Ernährungsunsicherheit zu kämpfen hat, sowie die gewaltsamen und humanitären Krisen in der Sahelzone und im Norden Nigerias zur Vertreibung Hunderttausender Menschen. Die Pandemie und der Klimanotstand machten den Studienautoren zufolge die Situation noch unsicherer: Anfang 2020 wurde die Sahelzone von schweren Überschwemmungen heimgesucht, dieses Macht- und Organisationsvakuum nutzten Terrorgruppen zur Ausweitung ihres Einflusses.
Umweltkatastrophen und Wetterextreme sorgten erneut für viele Fluchtbewegungen: Der Zyklon Ampham etwa trieb im Mai 2020 vorübergehend fünf Millionen Menschen in Bangladesch, Bhutan, Indien und Myanmar aus ihrer Heimat. In vielen Fällen wurden durch den Wirbelsturm Häuser dauerhaft so zerstört, dass die Menschen auf längere Sicht nicht zurückkehren können.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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