Bilanz von Chefankläger Serge Brammertz »Das Problem sind die nationalistischen Politiker, die weiterhin Hass predigen«

Das Uno-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien hat heute die letzten beiden Urteile gefällt. Die Arbeit von Chefankläger Serge Brammertz in Den Haag ist weitestgehend getan – wirklich zufrieden ist er nicht.
Ein Interview von Heiner Hoffmann, Nairobi
Die sterblichen Überreste der Opfer von Srebrenica wurden aus den Massengräbern exhumiert und zur Beweissicherung aufbewahrt

Die sterblichen Überreste der Opfer von Srebrenica wurden aus den Massengräbern exhumiert und zur Beweissicherung aufbewahrt

Foto: AMEL EMRIC / AP
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Das Uno-Tribunal hat am Mittwoch zwei hochrangige serbische Geheimdienstmitarbeiter zu 12 Jahren Haft verurteilt. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass die Milosević-Vertrauten Beihilfe zu Mord, Vertreibung und Verfolgung geleistet haben. Es waren die letzten beiden Urteile aus Den Haag zu den Balkan-Kriegen.

Der Belgier Serge Brammertz hat die Anklage geschrieben, er ist seit 13 Jahren Oberster Staatsanwalt des Tribunals. Sein Job ist die Aufklärung und Verfolgung einiger der schlimmsten Gräueltaten, die seit dem Holocaust begangen wurden. Neben den Kriegsverbrechen auf dem Balkan, darunter der Völkermord von Srebrenica, arbeitet der Jurist den Genozid in Ruanda 1994 auf.

Der SPIEGEL hat Brammertz in der kenianischen Hauptstadt Nairobi getroffen und mit ihm über Versöhnung auf dem Balkan, Hass schürende Politiker und flüchtige Völkermörder gesprochen.

SPIEGEL: Heute wurde das mutmaßlich letzte Urteil des Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien gesprochen. Wir treffen Sie in Nairobi. Hätten Sie diesen Moment nicht gerne vor Ort erlebt?

Brammertz: Auf jeden Fall! Ich war in Den Haag für das Mladić-Urteil vor zwei Wochen. Doch da ich mehrere Büros bediene, bin ich gerade auf dem Weg zurück nach Arusha. Das war leider schon geplant, bevor das Datum der Urteilsverkündung bekannt wurde.

SPIEGEL: Die beiden letzten Angeklagten wurden heute zu 12 Jahren Haft verurteilt. Sind Sie zufrieden mit dem Urteil?

Brammertz: Wir sind mit dem Urteil zufrieden – auch wenn das Strafmaß von 12 Jahren unterhalb dessen geblieben ist, was wir als Anklage gefordert hatten. Wichtig ist: Die Richter haben festgestellt, dass beiden Angeklagten die Begehung von Kriegsverbrechen in Bosnien maßgeblich unterstützt haben.

SPIEGEL: Und was passiert jetzt, wo das wohl letzte Urteil gesprochen wurde? Werden die Büros geschlossen, die Mitarbeiter nach Hause geschickt?

Brammertz: Nein, sicherlich nicht. Es ist in der Tat das letzte erstinstanzliche Urteil. Aber es wird wahrscheinlich eine Berufung geben. Und wir haben ja noch das zweite Büro in Arusha, das sich um den Völkermord in Ruanda kümmert. Hier wird es wohl demnächst ein Hauptverfahren gegen Félicien Kabuga geben, der letztes Jahr festgenommen wurde. Es wird also noch einige Arbeit auf uns warten. Und was im Hinblick auf das ehemalige Jugoslawien sehr wichtig ist: Allein in Sarajevo laufen derzeit noch 400 nationale Verfahren gegen mehr als 3000 Straftäter. Die werden wir sehr stark unterstützen mit unseren neun Millionen Seiten Dokumenten in Den Haag.

SPIEGEL: Sind Sie enttäuscht darüber, in all den Jahren nicht noch mehr Täter zur Verantwortung gezogen zu haben? Es gab auch einige umstrittene Freisprüche.

Brammertz: Als das Gericht geschaffen wurde, hätten wir uns nicht träumen lassen, dass es 161 Anklagen geben würde. Das ist aber gelungen, es gibt keine flüchtigen Angeklagten mehr. Auch Karadzić und Mladić wurden verurteilt. Das ist sicherlich ein voller Erfolg. Ich denke, dass die Mütter von Srebrenica sehr glücklich darüber sind. Doch sind alle Opfergruppierungen zufrieden? Sicherlich nicht. Hätte man mehr machen können? Sicherlich ja. Hätte man vielleicht noch mehr Verfahren führen können? Möglicherweise. Doch 161 Anklagen sind mehr als andere internationalen Gerichte zusammen geschafft haben. Aber es ist eben sehr wenig, wenn man es vergleicht mit den mehr als 3000 Fällen, die es in Bosnien noch gibt. Trotzdem würde der Balkan heute anders aussehen, hätte man diese Haupttäter nicht international verfolgt.

Uno-Ermittler bei der Untersuchung eines Massengrabes mit Sebrenica-Opfern bei Pilica in Bosnien-Herzegowina 1996

Uno-Ermittler bei der Untersuchung eines Massengrabes mit Sebrenica-Opfern bei Pilica in Bosnien-Herzegowina 1996

Foto: Staton R. Winter / AP

SPIEGEL: Wie würde er aussehen?

Brammertz: Ich denke nicht, dass es jemals zu all diesen Verfahren gekommen wäre. Und ich denke auch, dass diese internationalen Verfahren die nationalen Gerichte gestärkt haben. Aber wir haben heute das Problem, dass die Straftäter vor Ort glorifiziert werden. Selbst der Völkermord von Srebrenica wird geleugnet. Das ist für mich die größte Enttäuschung. So viele unverantwortliche Politiker auf dem Balkan sprechen den Opfern das Recht ab, Opfer zu sein. Obwohl wir selbst Videoaufnahmen vor Gericht gezeigt haben, wie Mladićs Soldaten Gefangene exekutieren. Trotzdem denke ich, dass die ganzen Urteile, die mehr als 5000 Zeugenaussagen, einen Beitrag gegen das Vergessen leisten.

SPIEGEL: Aber wenn diese Beweise vor Ort nicht durchdringen, wenn trotz all der Verfahren immer noch geleugnet wird, dass es Gräueltaten gegeben hat – was hat es dann gebracht?

Brammertz: Das frustriert mich in der Tat sehr. Ich würde mir wünschen, dass die internationale Gemeinschaft darauf drängt, das Leugnen des Völkermordes von Srebrenica unter Strafe zu stellen. In der Republika Srpska (Anm. d. Red.: Der überwiegend von bosnischen Serben bewohnte Teil Bosnien-Herzegowinas) wurde am Tag der Verurteilung von Karadzić ein Studentenwohnheim nach ihm benannt. Der Unterrichtsminister hat gesagt, es werde in den Schulbüchern nichts über einen angeblichen Völkermord in Srebrenica geben, weil er nicht passiert sei. Da haben wir als internationale Gemeinschaft eine Verpflichtung. Als Staatsanwalt gehe ich nicht auf politische Themen ein. Aber als europäischer Bürger würde ich mir wünschen, dass nur diejenigen in der europäischen Familie aufgenommen werden, die auch bereit sind, unsere Werte zu vertreten, für diese Werte einstehen, sie auch in der Praxis umsetzen. Und die Akzeptanz von internationalen Urteilen eines Uno-Tribunals gehört dazu.

Hinterbliebene des Sebrenica-Massakers bei einer Trauerfeier 2017

Hinterbliebene des Sebrenica-Massakers bei einer Trauerfeier 2017

Foto: Amel Emric / AP

SPIEGEL: Also den EU-Beitritt Serbiens und Bosnien-Herzegowinas aussetzen?

Brammertz: Seit 15 Jahren schicken wir Berichte an den Uno-Sicherheitsrat über die Qualität der Zusammenarbeit mit der Justiz im ehemaligen Jugoslawien. Diese Berichte schicken wir natürlich auch nach Brüssel und wir wünschen uns, dass den kritischen Berichten ein gewisser Stellenwert beigemessen wird bei der politischen Entscheidungsfindung. Ich werde nie eine Aussage darüber machen, wer in die EU aufgenommen werden sollte und wer nicht. Ich denke nur, dass unsere Berichte auf jeden Fall berücksichtigt werden sollten.

Podcast Cover

SPIEGEL: Der heute abgeurteilte Fall war eine Achterbahnfahrt wie die Geschichte des Gerichtshofs selbst. 2013 ein Freispruch, zwei Jahre später doch wieder ein Neuaufrollen des Falls. Wie oft haben Sie selbst darüber nachgedacht, den Job aus Frust an den Nagel zu hängen?

Brammertz: Eigentlich nie. Ich bin seit mehr als 30 Jahren Staatsanwalt, erst in Belgien und seit 13 Jahren international. Für die Opfer sind wir oft die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit. Natürlich hat es ein paar Freisprüche gegeben, über die wir nicht sehr froh waren. Aber das ist nun mal das System, das wir als Demokraten unterstützen. Es kann ja nicht sein, dass diese Gerichte automatisch zu Verurteilungen führen. Ich denke, dass Freisprüche – so bedauerlich sie auch manchmal für den Staatsanwalt sind – eigentlich nur beweisen, dass das System funktioniert. Und wenn man zum Beispiel nach der Festnahme und Verurteilung von General Mladić die Opfer und Überlebenden trifft, dann weiß man, dass man in deren Leben wirklich etwas bewegt hat.

SPIEGEL: Die große Hoffnung war, dass das Uno-Tribunal auch für Versöhnung auf dem Balkan sorgt. Ist dieses Ziel erreicht?

Brammertz: Jein. Ich denke nicht, dass man von einem internationalen Gericht erwarten kann, dass es durch Strafverfolgung einen direkten Weg zur Versöhnung gibt. Versöhnung muss aus der Gemeinschaft kommen, von den Opfergruppierungen, von verantwortungsvollen Politikern. Und die fehlen ja in den meisten Ländern des ehemaligen Jugoslawiens leider Gottes. Aber die gerichtliche Strafverfolgung ist eine Voraussetzung dafür, überhaupt eine Chance auf Versöhnung zu haben. Denn wie kann man eine gemeinsame Zukunft planen, wenn man sich nicht darüber verständigen kann, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist, wer verantwortlich ist für das Leid von Hunderttausenden? Die Urteile können also ein Baustein zur Versöhnung sein. Aber das Problem sind die nationalistischen Politiker, die weiterhin Hass predigen und eine gesunde Versöhnung unmöglich machen.

SPIEGEL: Ihre Vorgängerin Carla Del Ponte hat vor Kurzem dem SPIEGEL ein Interview gegeben . Darin hat sie an den USA kein gutes Haar gelassen, sich über politische Einflussnahme beschwert. Es sei zum Beispiel die Verfolgung von Kriegsverbrechen im Kosovo ausgebremst worden. Hat sie Ihnen aus dem Herzen gesprochen?

Brammertz: Nein, sie hat natürlich von ihrer eigenen Zeit gesprochen. Ich selbst habe die Amerikaner als zuverlässigen Partner erlebt.

Chefankläger Serge Brammertz in Den Haag (nach der Verurteilung von Ratko Mladić 2017)

Chefankläger Serge Brammertz in Den Haag (nach der Verurteilung von Ratko Mladić 2017)

Foto: Michel Porro / Getty Images

SPIEGEL: Haben Sie niemals politische Einflussnahme erlebt?

Brammertz: Nein. Natürlich treffen wir als internationale Ankläger Außenminister, Justizminister oder Botschafter und natürlich teilen die uns ihre Meinung mit. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, in meinen 30 Jahren beruflicher Tätigkeit ist es noch nie vorgekommen, dass ein Politiker gesagt hätte: Mach dies oder jenes. Eigentlich ist das undenkbar in unserem System. Wir haben eine sehr große Unabhängigkeit. Aber ich respektiere natürlich, dass es jemand in den ersten Jahren anders erlebt hat als wir heute. Nachdem 1995 die Haftbefehle gegen Karadzić und Mladić ausgestellt wurden, fuhren die beiden frei mit ihren Sicherheitsleuten durch die Gegend. Mladić bekam im Stadion Standing Ovations. Und die internationalen Truppen vor Ort haben in die andere Richtung geschaut. Sie haben einfach gesagt: Wir sind hier zur Friedenssicherung und nicht um diese Volkshelden festzunehmen. Das war nicht akzeptabel.

SPIEGEL: Sie werden sich nun vermehrt auf Ruanda und die Aufarbeitung des Völkermordes von 1994 konzentrieren. Warten da ähnliche Herausforderungen?

Brammertz: Es ist schon sehr unterschiedlich. Im ehemaligen Jugoslawien hat zumindest unser Tribunal keine Flüchtigen mehr. Dort sind inzwischen die nationalen Behörden gefordert, weitere Prozesse zum Ende zu bringen. Doch deren Problem ist, dass nach wie vor hunderte mutmaßliche Kriegsverbrecher, die in Bosnien ihr Unwesen getrieben haben, aus Serbien und Kroatien nicht ausgeliefert werden. Mit Ruanda haben wir eine sehr intensive Zusammenarbeit aufgebaut. Dort ist meine Hauptaufgabe nun, sechs flüchtige Tatverdächtige aus Ruanda zu fassen. Meine Behörde hat sie wegen Beteiligung am Völkermord angeklagt. Mein Team reist in den nächsten Tagen nach Simbabwe und Südafrika, um diese Leute aufzuspüren.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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