Uno-Weltflüchtlingsbericht Zahl der Menschen auf der Flucht hat sich innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt

Die Zahl der Geflüchteten steigt seit Jahren weltweit. In seinem aktuellen Bericht nennt das Uno-Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nun ein neues Allzeithoch. An der Zählweise gibt es jedoch auch Kritik.
Menschen warten in einem provisorischen Flüchtlingscamp im Norden von Äthiopien auf Essen

Menschen warten in einem provisorischen Flüchtlingscamp im Norden von Äthiopien auf Essen

Foto: Amanuel Sileshi / AFP
Globale Gesellschaft

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Es sind nur die Zahlen aus dem vergangenen Jahr, also noch vor dem Ukrainekrieg. Und doch sind sie alarmierend. Ende 2021 lag die Zahl der durch Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen vertriebenen Menschen bei 89,3 Millionen. Das sind acht Prozent mehr als im Jahr davor – und mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Das geht aus dem jüngsten Bericht  des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor, der dem SPIEGEL vorab vorlag.

Bereits in den vergangenen Jahren hatte die Organisation von Rekordzahlen berichtet. Jetzt dürften sie erneut weiter steigen. Schon im Mai meldete die Organisation, dass in diesem Jahr die Zahl der Menschen auf der Flucht weltweit erstmals auf mehr als hundert Millionen gestiegen sei.

Zahl der Binnenvertriebenen in Afghanistan steigt bereits seit 15 Jahren

Bis Dezember 2021 verließen laut dem aktuellen Jahresbericht 31,5 Millionen Menschen ihre Heimatländer. Die meisten stammen aus diesen fünf Ländern:

Hinzu kamen 4,6 Millionen Asylsuchende und 53,2 Millionen Binnenvertriebene, die zumindest zeitweise innerhalb ihres eigenen Landes fliehen mussten. In Afghanistan waren das im Jahr der erneuten Machtübernahme der Taliban beispielsweise 900.000 Menschen. So erschreckend die Zahl ist: Laut Uno war das vergangene Jahr bereits das fünfzehnte in Folge, in dem die Zahl der Binnenvertriebenen abermals anstieg.

Auch im Jemen und in asiatischen Staaten wie Myanmar sowie in afrikanischen Ländern wie Burkina Faso, Äthiopien und dem Südsudan flohen erneut zahlreiche Menschen innerhalb der Grenzen ihres Landes. Zu den Ursachen gehörten nicht nur militärische Konflikte und Vertreibung, sondern auch die Folgen des Klimawandels, so die Autorinnen und Autoren des Berichts.

Immer mehr Menschen fliehen aus Venezuela

Extra ausgewiesen wird inzwischen auch die Zahl der Menschen aus Venezuela, die ihr Land als Geflüchtete, Asylsuchende oder Migranten verließen. Bis Jahresende 2021 nennt die Uno hier 4,6 Millionen Menschen, die das von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Korruption und Misswirtschaft gezeichnete Land verließen.

Camp für geflohene Venezuelaner in Kolumbien

Camp für geflohene Venezuelaner in Kolumbien

Foto: Lismari Machado / Anadolu Agency / Getty Images

Insgesamt zieht das UNHCR in seinem Bericht ein ernüchterndes Fazit. »In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Vertriebenen jedes Jahr gestiegen«, sagte der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Filippo Grandi. »Wenn die internationale Gemeinschaft nicht zusammenkommt, um etwas gegen diese menschliche Tragödie zu unternehmen, Konflikte zu beenden und dauerhafte Lösungen zu finden, dann wird dieser schreckliche Trend anhalten.«

Zu den fünf Ländern, in denen weltweit bis Ende des Jahres 2021 am meisten Geflüchtete Zuflucht fanden, gehört neben der Türkei, Uganda und Pakistan auch Deutschland. Einen Sonderstatus nimmt Kolumbien ein. Das südamerikanische Land gewährte 1,8 Millionen Menschen Schutz, die ganz überwiegend aus dem Nachbarland Venezuela kamen, jedoch nicht nur als Geflüchtete gezählt werden.

Zählweise ist nicht unumstritten

Allgemein beschreibt der UNHCR-Jahresbericht erneut teils sehr unterschiedliche Schicksale. Zu den Vertriebenen zählt das Uno-Flüchtlingshilfswerk unter anderem auch Palästinenser, die bereits vor Jahrzehnten in benachbarten Ländern wie Jordanien oder dem Libanon Zuflucht fanden und heute teilweise längst eine neue Staatsbürgerschaft besitzen. Auch Geflüchtete, die beispielsweise in Europa eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen, werden in der Zählung berücksichtigt.

»Wie der UNHCR über Geflüchteten-Zahlen spricht, spielt leider auch jenen in die Hände, die vor nicht existierenden Massenmigrationen warnen«, kritisierte der Migrationsexperte Gerald Knaus bereits im vergangenen Jahr die Uno-Zählweise.

Syrisches Flüchtlingskind in einem Lager im Libanon

Syrisches Flüchtlingskind in einem Lager im Libanon

Foto: Mahmut Geldi / Anadolu Agency / Getty Images

Auch die Uno räumt ein, dass der aktuelle Bericht die tatsächliche Lage nicht vollständig abbildet, vor allem jedoch wegen der fehlenden Daten seit Jahresbeginn. »Seitdem hat die russische Invasion in der Ukraine eine der größten und die am schnellsten wachsende Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst«, bilanziert das UNHCR anlässlich der heutigen Veröffentlichung.

Ungleiche Lasten für ärmere und reichere Länder

Schon jetzt geht die Hilfsorganisation davon aus, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Rekordzahlen weiter ansteigen lassen wird. Zugleich sind die aus der Ukraine nach Europa geflohenen Menschen global gesehen eine Ausnahme. Weltweit fanden laut Bericht 83 Prozent der Geflüchteten und Vertriebenen Zuflucht in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommen, meist in benachbarten Staaten.

Der unterschiedliche Umgang mit Geflüchteten und Migranten wurde zuletzt auch von anderen Hilfsorganisationen thematisiert. »Diejenigen, die vor Gewalt flüchten, diejenigen, die Schutz suchen, sollten gleich behandelt werden«, forderte etwa der Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, Francesco Rocca, der den Europäern kürzlich bei einer Pressekonferenz  die Ungleichbehandlung ukrainischer und afrikanischer Geflüchteter vorwarf: »Ja, es wird mit zweierlei Maß gemessen.«

Ukrainerinnen warten in einem Aufnahmezentrum in Bulgarien auf ihre Registrierung

Ukrainerinnen warten in einem Aufnahmezentrum in Bulgarien auf ihre Registrierung

Foto: Hristo Rusev / Getty Images

Aktuell zeigt sich etwa bei den britischen Plänen, Asylbewerber nach Ruanda abzuschieben, dass Migrationspolitik ein Konfliktthema bleibt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte das Vorhaben am Dienstag untersagt, Großbritannien hält jedoch an seinen Plänen fest.

Trotz solcher Konflikte und anhaltender Krisen sieht das UNHCR in seinem Jahresbericht auch Anzeichen für Verbesserungen – zumindest im Kleinen. Denn obwohl die Zahl der Staatenlosen im vergangenen Jahr leicht anstieg, erwarben rund 81.000 Menschen auch eine Staatsbürgerschaft oder ließen sie bestätigen. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk ist auch das die höchste Zahl seit dem Jahr 2014.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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