»Wir ehren ihre Geschichte. Wir sehen diesen Schmerz« Biden erkennt Massaker an Armeniern als Völkermord an

Historiker sprechen von bis zu 1,5 Millionen Opfern: Die Massaker an Armeniern im Ersten Weltkrieg hat Joe Biden als Völkermord eingestuft. Die türkische Regierung wirft Biden Populismus vor – und bestellt den US-Botschafter ein.
»Gerechtigkeit, jetzt«: Am Abend vor dem Gedenktag für den armenischen Genozid verliehen junge Armenier in der Nähe des Weißen Hauses ihrer Forderung Ausdruck

»Gerechtigkeit, jetzt«: Am Abend vor dem Gedenktag für den armenischen Genozid verliehen junge Armenier in der Nähe des Weißen Hauses ihrer Forderung Ausdruck

Foto: NICHOLAS KAMM / AFP

Die türkische Regierung hatte ihn gewarnt. Doch US-Präsident Joe Biden hat die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges als Völkermord anerkannt. »Das amerikanische Volk ehrt all jene Armenier, die in dem Völkermord, der heute vor 106 Jahren begann, umgekommen sind«, hieß es in einer vom Weißen Haus verbreiteten Mitteilung Bidens zum Gedenktag an die Massaker am Samstag. Im Wahlkampf hatte Biden eine Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Völkermord versprochen.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu wies die Aussage Bidens am Samstagabend »vollständig« zurück. Sie basiere »nur auf Populismus«, schrieb er auf Twitter. »Wir haben uns von niemandem über unsere eigene Vergangenheit belehren zu lassen. Politischer Opportunismus ist der größte Verrat an Frieden und Gerechtigkeit.«

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Türkei bestellt US-Botschafter ein

Die türkische Regierung bestellte daraufhin den US-Botschafter in Ankara ein. Mit der Einbestellung von David Satterfield bringe das türkische Außenministerium seinen Protest gegen Bidens Äußerungen vom Samstag zum Ausdruck, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Bidens Äußerungen hätten »eine Wunde« in die Beziehungen beider Länder geschlagen, »die schwer wieder gutzumachen« sei, kritisierte das Ministerium in Ankara laut Anadolu.

Die Regierung in Ankara hatte die US-Regierung zuletzt vor einem solchen Schritt gewarnt. Çavuşoğlu hatte dem Sender Habertürk kürzlich gesagt, sollten die Vereinigten Staaten die Beziehungen zum Nato-Partner Türkei weiter verschlechtern wollen, dann sei das ihre Entscheidung.

Ein »mächtiger Schritt auf dem Weg der Wahrheit«

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan begrüßte Bidens Worte. »Das armenische Volk und alle Armenier der Welt haben Ihre Botschaft (...) mit großer Begeisterung erhalten«, sagte er laut Mitteilung. Paschinjan sprach von »einem mächtigen Schritt auf dem Weg der Wahrheit und der historischen Gerechtigkeit« sowie von einer »unschätzbaren Unterstützung für die Nachkommen der Opfer des Völkermords«.

Während des Ersten Weltkriegs waren Armenier systematisch verfolgt und unter anderem auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt worden. Historiker sprechen von Hunderttausenden bis zu 1,5 Millionen Opfern. Die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches gesteht den Tod von 300.000 bis 500.000 Armeniern während des Ersten Weltkrieges ein und bedauert die Massaker. Eine Einstufung als Völkermord weist sie jedoch strikt zurück.

Die USA fühlten sich verpflichtet, zu verhindern, dass sich ähnliche Gräueltaten jemals wieder ereigneten, erklärte Biden. Überlebende der Verfolgung hätten sich gezwungen gesehen, auf der ganzen Welt eine neue Heimat und ein neues Leben zu finden. Mit »Stärke und Widerstandskraft« habe das armenische Volk überlebt, habe aber niemals die tragische Geschichte vergessen. »Wir ehren ihre Geschichte. Wir sehen diesen Schmerz. Wir bestätigen die Geschichte. Wir tun dies nicht, um Schuld zuzuweisen, sondern um sicherzustellen, dass sich das, was geschehen ist, niemals wiederholt.«

Joe Biden: »Schweigen ist Mittäterschaft«

Bereits als Präsidentschaftskandidat hatte Biden beim Gedenktag vor einem Jahr vom »Genozid« an den Armeniern gesprochen. Biden betonte damals: »Schweigen ist Mittäterschaft.« Ebenfalls als Kandidat hatte Biden außerdem einen härteren Kurs gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, den er einen »Autokraten« nannte, der einen Preis für sein Verhalten zahlen werde.

In einem Interview der »New York Times« sprach sich Biden im Januar vergangenen Jahres dafür aus, die türkische Opposition zu unterstützen.

Vor wenigen Tagen hatten mehr als 100 Kongressabgeordnete sowohl der Demokraten als auch der Republikaner Biden in einem Brief aufgefordert, »den Völkermord an den Armeniern in Ihrer Erklärung am 24. April klar und direkt anzuerkennen«. Sie beklagten, dass US-Präsidenten seit Jahrzehnten schwiegen, während andere Staats- und Regierungschefs »den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts« als solchen bezeichnen würden. Nach US-Medienberichten hatte der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1981 die Massaker an den Armeniern als Völkermord bezeichnet, aber keiner seiner Nachfolger.

Deutschland bezog bereits 2016 Position

Bereits 2019 hatte der US-Kongress die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anerkannt. Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump betonte anschließend, die rechtlich nicht bindende Resolution ändere nichts an der Haltung der US-Regierung. Biden-Vorgänger Trump hatte »von einer der schlimmsten Massen-Gräueltaten des 20. Jahrhunderts« gesprochen, das Wort Völkermord aber – wie andere US-Präsidenten auch – vermieden.

Nach der Verabschiedung der Völkermord-Resolution durch den US-Kongress hatte das türkische Außenministerium den amerikanischen Botschafter einbestellt. Der türkische Vize-Präsident Fuat Oktay kritisierte damals, der Kongress versuche, die »Geschichte mit Lügen umzuschreiben«. Im Jahr 2016 hatte der Deutsche Bundestag die Massaker an den Armeniern als Völkermord eingestuft – das belastete die deutsch-türkischen Beziehungen über lange Zeit schwer.

Biden telefonierte am Freitag mit Erdoğan, wie das Weiße Haus mitteilte. Biden habe in dem Gespräch sein Interesse »an einer konstruktiven bilateralen Beziehung« zum Ausdruck gebracht. Die beiden Präsidenten hätten ein Treffen am Rande des Nato-Gipfels in Brüssel im Juni vereinbart. Auf den Gedenktag der Massaker an den Armeniern wurde in der Mitteilung nicht eingegangen.

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In Frankreich hat am Samstag Präsident Emmanuel Macron der Massaker an Armeniern gedacht. »Das französische Volk und das armenische Volk sind für immer verbunden«, teilte der 43-Jährige via Twitter mit. Auf Bildern war der Staatschef beim Mahnmal im Zentrum von Paris zu sehen. Macron hatte vor rund zwei Jahren angekündigt, den 24. April zu einem nationalen Gedenktag zu machen. Wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete, war es nun das erste Mal, dass er am Gedenktag an einer offiziellen Feier teilnahm.

jus/dpa/afp
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