Umfragen zur US-Wahl Der wacklige Gradmesser

Wahlplakate in Fairfax, Virginia: Weniger unentschiedene Wählerinnen und Wähler als 2016
Foto: ALEXANDER DRAGO / REUTERSIn Pennsylvania liegt Joe Biden sieben Prozentpunkte vor Donald Trump. Genauso ist es in Wisconsin und Michigan, zwei anderen jener wahlentscheidenden "battleground states". Landesweit beträgt der Vorsprung des Demokraten sogar mehr als acht Punkte.
Zu diesem Ergebnis kommen die Datenanalysten von FiveThirtyEight . Sie sammeln die zahlreichen Umfrageresultate, gewichten sie entsprechend der statistischen Qualität der Erhebung und prognostizieren auf dieser Grundlage den Wahlausgang. Glaubt man aktuellen Umfragen, so ist der Demokrat auf Kurs, die Präsidentschaftswahl am 3. November zu gewinnen; selbst ein Erdrutschsieg scheint im Rahmen des Machbaren.
Gelassen macht dieser Befund viele Demokraten und Anhänger des früheren Vizepräsidenten dennoch nicht, siegessicher schon gar nicht. Zu lebhaft ist die Erinnerung an 2016. Damals sahen die Demoskopen in den letzten Tagen vor der Wahl Hillary Clinton vor Trump: FiveEightThirty prognostizierte einen Vorsprung der Demokratin von 3,7 Punkten in Pennsylvania, 4,2 in Michigan und 5,3 in Wisconsin.
Clinton ignorierte die beiden letztgenannten Bundesstaaten im Wahlkampf weitgehend. Am Ende gewann Trump alle drei und zog ins Weiße Haus ein. Mit dieser Erfahrung im Rücken tut der Präsident auch die diesjährigen Umfragewerte als "Fake" ab.
Was aber besagen Letztere im Einzelnen? Wie kam es vor vier Jahren zu den Diskrepanzen? Und was machen die Demoskopen in diesem Jahr anders?
Umfragen 2020: Bidens beständiger Vorsprung
Das Auffälligste an den Umfragen vor der diesjährigen Wahl seien die "Beständigkeit und Weite" von Bidens Vorsprung, sagt Christopher Borick vom Meinungsforschungsinstitut des Muhlenberg College in Pennsylvania dem SPIEGEL. Die Ergebnisse zahlreicher Befragungen legten nahe, dass es für den Präsidenten ein beschwerlicher Weg zur Wiederwahl werden dürfte.

Joe Biden beim Wahlkampf in Toledo, Ohio: Beständiger Vorsprung in den Umfragen
Foto: REBECCA COOK / REUTERSDen Prognosen von FiveThirtyEight zufolge hat Biden landesweit seit Juni einen Vorsprung von mindestens rund sechs Prozentpunkten. (Einen laufend aktualisierten Überblick über die Werte finden Sie hier.) In der jüngsten Erhebung der "Washington Post" und des Senders ABC etwa führt der frühere Vizepräsident gar mit zwölf Punkten vor Trump.
Zwar ist die Aussagekraft landesweiter Umfrage- und Prognosewerte begrenzt. Das Rennen um das Weiße Haus wird nicht durch die Mehrheit der Stimmen im ganzen Land entschieden. Wegen des besonderen Wahlsystems der USA ist für die Wahl nur eine Reihe besonders umkämpfter Bundesstaaten wichtig. (Mehr dazu hier.) Laut FiveThirtyEight ist der entscheidende Bundesstaat Pennsylvania, gefolgt von Wisconsin und Florida.
Doch sehen zahlreiche Umfragen Biden auch in mehreren dieser Swing States vorn, zum Teil deutlich. Legt man die Prognosen von FiveThirtyEight zugrunde, so lässt sich ein besonders interessantes Szenario beobachten: Sollte Biden nur jene Bundesstaaten gewinnen, in denen er laut den Prognosen mit fünf oder mehr Punkten führt, hätte er bereits mehr als die 270 für den Sieg nötigen Wahlleute im Electoral College sicher - selbst wenn sich Trump in allen anderen Staaten durchsetzen sollte. Letzteres aber ist den Analysten zufolge keineswegs ausgemacht. Denn Biden führt demnach nicht nur in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, sondern auch in Florida, North Carolina und Arizona (mit jeweils drei Punkten). In Ohio, Georgia und Iowa liegen die Kandidaten Kopf an Kopf.
2016: Das Umfragetrauma der Demokraten
Umfragen und Prognosen, in denen der demokratische Kandidat kurz vor der Wahl vor Trump liegt: Dieses Bild bot sich auch vor vier Jahren schon. Am Ende aber gewann Trump. Wie kam es dazu?
Zunächst einmal gelte es, die Zahlen des Jahres 2016 richtig einzuordnen, sagt Christopher Borick: "Die landesweiten Umfragen waren beeindruckend präzise: Viele sahen Clinton mit etwa drei Punkten vor Trump und am Ende lag sie mit zwei vorne." Die Genauigkeit sei sogar höher gewesen als 2012: "Damals lag Obama in vielen der letzten Umfragen mit ein bis zwei Punkten vorn; er gewann mit rund vier." Damals machte aber niemand einen Unterschied zwischen statistischer Genauigkeit und politischer Bewertung der Zahlen: Dass Barack Obama die "popular vote" mit vier statt mit zwei Punkten gewann, interessierte niemanden.
Anders sah es bisweilen auf Bundesstaatsebene aus: In manchen wahlentscheidenden Staaten wie Wisconsin wurden schlicht zu wenige Umfragen durchgeführt, um ein aufschlussreiches Gesamtbild vom Wählerwillen zu bekommen.

Trump-Wahlkampf in Iowa: Weniger unentschiedene Wähler als 2016
Foto: CARLOS BARRIA / REUTERSHinzu kam ein weiterer Aspekt: "2016 gab es einen beträchtlichen Anteil an Leuten, die unentschieden waren und weder Hillary Clinton noch Donald Trump mochten", sagt Christopher Borick. Überproportional viele dieser Wähler entschieden sich schließlich für Trump. Dies könnte laut Borick damit zusammenhängen, dass die US-Wählerschaft tendenziell abgeneigt ist, derselben Partei drei Amtszeiten in Folge zu gewähren.
Schließlich, sagt Borick, habe sein Institut 2016 den Faktor Bildung in seiner Gewichtungsformel nicht berücksichtigt. Dieser habe traditionell keine große Rolle gespielt, anders etwa als Geschlecht, Alter und Hautfarbe. In diesem Jahr haben der Politikwissenschaftler und seine Mitarbeiter den Faktor in ihre Formel aufgenommen.
Das führt dazu, dass Biden in ihrer im August durchgeführten Umfrage nur vier Punkte vor Trump liegt; ohne Einpreisung des Faktors Bildung wären es sechs. Die Umfragen des Instituts gehören zu den wenigen, denen die Datenanalysten von FiveThirtyEight die Bestnote "A+" geben: unter anderem wegen der hohen methodischen Qualität sowie des zeit- und kostenaufwendigen Vorgehens, zu dem Telefon- und Handybefragungen gehören.
Was wird in diesem Jahr anders gemacht?
Solche methodischen Umstellungen einzelner Institute sind nicht die einzige Neuerung in diesem Jahr. In jenen Staaten, in denen es vor vier Jahren nicht genug Qualitätsumfragen gab, sind nun renommierte "Pollster" unterwegs.
Eine potenzielle Fehlerquelle ist dagegen hinzugekommen: Wegen der Corona-Pandemie dürften deutlich mehr Menschen per Briefwahl abstimmen, viele haben es schon getan. Meinungsforscher müssten ihre Fragen deshalb anpassen, sagt Borick. Eine größere Herausforderung sieht er darin aber nicht.
Der womöglich wichtigste Unterschied zu 2016 aber ist, dass es deutlich weniger unentschiedene Wähler zu geben scheint. Dies könnte erklären, weshalb Biden in den Umfragen seit Längerem konstant führt. Er hat einen deutlich größeren Vorsprung, als Hillary Clinton ihn je hatte, er ist deutlich beständiger. Die Umfragen vor vier Jahren schwankten deutlich stärker.
Der Befund, dass sich die Wähler schon lange entschieden haben, scheint sich mit dem zu decken, was Christopher Borick vor seiner Haustür beobachtet. Der Politikwissenschaftler lebt im Northampton County, einem Swing County im Swing State Pennsylvania. Die Trump-Schilder aus dem Jahr 2016 seien in diesem Jahr wieder zurück, sagt er. Der Präsident genieße bei seiner Basis "tiefe und starke Unterstützung". Es gebe nun aber entsprechend viele Biden-Schilder und -Flaggen.
Allerdings, warnt Borick, sei es riskant, anekdotenhafte eigene Erfahrungen und statistische Analysen zu vermischen. Die Ungewissheit bleibt.