Wahlkrimi in den USA Worauf sich die Welt gefasst machen muss

Trump-Anhänger auf Gerald R. Ford International Airport in Grand Rapids
Foto:Jeff Kowalsky / AFP
Der US-Wahlkampf dauert gefühlt seit einer Ewigkeit, nun ist der Tag der Entscheidung da. Zumindest in der Theorie: Die letzten Wähler werden ihre Stimmen abgeben – nur ob es schon in der Nacht einen Gewinner geben wird, ist ungewiss.
So kurz vor Toresschluss steigt die Nervosität im Land, und damit nehmen die Spekulationen zu, wie die Wahl ausgehen könnte. Der Demokrat Joe Biden wird als Favorit gesehen, auch in den Umfragen, doch ein Wahlsieg von Präsident Donald Trump bleibt weiter möglich.
Es gibt Dutzende Möglichkeiten, wie die Wahl enden könnte. Drei Szenarien erscheinen derzeit am plausibelsten – und keines davon dürfte die gespaltenen USA befrieden.
1. Die Hängepartie

Wahlwoche statt Wahlnacht: Trump am Sonntag in North Carolina
Foto: CARLOS BARRIA / REUTERSDas Szenario, das die meisten Beobachter zurzeit befürchten: eine Hängepartie, bei der in der Wahlnacht noch kein Sieger feststeht. "Wir erwarten eine Wahlwoche, keine Wahlnacht", sagte Ralph Northam, der demokratische Gouverneur von Virginia. Auch die Agentur AP, die neben den US-Networks für die offizielle Bekanntgabe der Resultate zuständig ist, geht davon aus: "Es besteht eine gute Chance, dass die Amerikaner nicht wissen, wer der Sieger der Präsidentschaftswahl ist, wenn sie in jener Nacht ins Bett gehen."
Das liegt daran, dass es in vielen US-Bundesstaaten Tage dauern kann (und darf), bis die Stimmen der Briefwähler und jener, die am Early Voting teilgenommen haben, gezählt sind. Während Florida damit schon 22 Tage vorher anfing und deshalb noch am Abend ein schnelles Ergebnis erwartet, lassen sich andere damit Zeit – auch wichtige Swing States wie Michigan, Pennsylvania und Wisconsin, in denen es auf jede Stimme ankommt. Überall sind die Regeln anders – und viele wurden von den Republikanern schon vorab angefochten, mit wechselndem Erfolg. Hinzu kommt, dass die US-Post – die vom Trump-Freund Louis DeJoy geführt wird – die Zustellung der Briefwahlstimmen zusätzlich verzögern könnte.
Trump hat in klassischer Manier bereits angekündigt, so ein Szenario eiskalt für sich auszunutzen. Obwohl lange Auszählfristen legal sind, nannte er sie am Sonntagabend erneut "schrecklich" und forderte, dass sie verboten würden: "Sobald diese Wahl vorbei ist", sagte er, werde er seine Anwälte in Marsch setzen, um jede weitere Auszählung anzuhalten.
Hintergrund ist ein Phänomen namens "Red Mirage" (rote Illusion): Demnach könnte Trump in der Wahlnacht zunächst führen, weil die Republikaner ihre Stimmen offenbar lieber persönlich am Wahltag abgeben als vorher oder per Post. Das Verhältnis könnte dann später mit der Auszählung der Brief- und Frühwahlstimmen Richtung Biden und der Demokraten kippen – was Trump durch einen Zählstopp verhindern will.
Um bei so einem Cliffhanger die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, hat Trump offenbar auch vor, sich noch in der Nacht vorzeitig zum Sieger zu erklären – selbst wenn die Networks das nicht stützen. Das habe Trump in kleinem Kreise erörtert, berichtete die Website "Axios".
2. Die blaue Welle

Kampf um die Seele der Nation: Biden am Sonntag in Pennsylvania
Foto: KEVIN LAMARQUE / REUTERSDavon träumen die Demokraten: dass Biden schon am Wahlabend als Gewinner feststeht. Die politische Landkarte der USA würde sich in diesem Szenario weitgehend in der Parteifarbe der Demokraten einfärben, während es nur noch wenige rote, also republikanische Flecken gäbe.
Der Optimismus mancher Demokraten, dass das eintreten könnte, beruht auf den letzten Umfragen vor der Wahl. Sie sehen Biden in etlichen Staaten deutlich vorn und in vielen weiteren Staaten – darunter auch Swing States – mit einem Vorteil von mindestens einem bis zwei Prozentpunkten.
Demnach könnte Biden bereits am Wahlabend in Florida siegen, wo die Stimmen ja früh ausgezählt werden. Dies wäre zwar nicht gleich zwingend eine landesweite Entscheidung, aber ein untrügliches Zeichen für eine "blaue Welle". Denn Florida würde nahelegen, dass diese Welle dann auch durch Wisconsin, Michigan, Pennsylvania und Ohio schwappt, und sogar republikanische Hochburgen wie Georgia, North Carolina und Texas könnte Biden erobern.
Insgesamt käme Biden dann auf 350 bis 400 Wahlmännerstimmen im "Electoral College", dem Wahlleutegremium, er würde also die nötige Mehrheit von 270 Stimmen deutlich überschreiten.
Sein Durchmarsch wäre unzweifelhaft, die TV-Networks und die Agentur AP würden ihn zum Sieger erklären, und Biden würde seine Siegesrede noch am Abend halten. Einen Ort hat er schon bekannt gegeben: Seine Wahlparty findet in Wilmington statt, Bidens Heimatort in Delaware.
Ob Trump einen Sieg Bidens trotzdem so einfach anerkennt, ist fraglich. Schließlich drohen ihm bei einer Rückkehr ins Privatleben gleich mehrere Strafverfahren, bei denen er sich dann nicht länger auf präsidiale Immunität berufen könnte. Also könnte er versuchen, die Niederlage möglichst lange zu verzögern oder günstige Bedingungen für sich herauszuhandeln, im Gegenzug für ein friedliches Eingeständnis.
Bis dahin wird befürchtet, dass Trumps teils militante Anhänger unfriedlich auf die Straße gehen – zumal er sie seit Wochen aufpeitscht, indem er immer wieder behauptet, die Demokraten könnten nur durch einen Wahlbetrug gewinnen. Viele Sicherheitsexperten gehen in diesem Fall von Gewalt und Ausschreitungen von rechts aus.
3. Der (relativ) knappe Trump-Sieg

Hoffnung auf Durchmarsch: Trump-Anhänger in North Carolina
Foto: HANNAH MCKAY / REUTERSNicht nur Trump und seine Anhänger halten es weiter für möglich, dass er Biden vernichtend schlägt. Sie glauben an die "rote Welle". Dafür müssten allerdings sämtliche Umfragen in den wichtigen Bundesstaaten nicht nur ein wenig falsch liegen, sondern um fünf, sechs, sieben Prozentpunkte oder sogar mehr danebenschießen. Solche extremen Abweichungen gab es selbst bei der letzten Wahl nicht, als die Demoskopen – und die Demokraten um Hillary Clinton – Trumps Stärke in wichtigen Regionen falsch einschätzten und von seinem Sieg überrascht wurden.
Wahrscheinlicher ist daher, dass ein möglicher Trump-Sieg, wenn, dann eher knapp ausfällt. Er könnte in diesem Szenario viele der Staaten halten, die er schon bei der letzten Wahl gewonnen hatte, vor allem die beiden großen "Battleground States" Florida und Pennsylvania, und könnte auch traditionelle Hochburgen seiner Partei wie Texas, Georgia, Arizona und North Carolina verteidigen. Selbst wenn Trump Wisconsin und Michigan an Biden abträte, würde es für ihn trotzdem ausreichen, um die magische Grenze von 270 Stimmen im Wahlleutegremium zu überschreiten.
Ob Trump so auf dem Weg zu einer möglichen Wiederwahl ist, lässt sich womöglich schon relativ früh am Wahlabend erahnen. Wenn bald feststeht, dass er Florida gewinnt und dann Staaten wie Iowa, Ohio, North Carolina und Georgia halten kann, wäre er klar im Spiel für den Gesamtsieg.
Auch in diesem Fall könnte es freilich zu Unruhen kommen. Viele Biden-Anhänger sind ihrerseits fest davon überzeugt, dass Trump sich einen Sieg nur erschleichen und erschwindeln kann. Massenproteste in Demokraten-Hochburgen wie New York City, Los Angeles, Chicago und Portland wären dann zu erwarten.