
Edel Rodriguez/ DER SPIEGEL

Die Lage: USA 2020 Lagerkoller im Weißen Haus

Liebe Leserin, lieber Leser,
heute beschäftigen wir uns mit Trumps neuen Corona-Briefings, seinem Kampf gegen von Demokraten regierte Städte - und Kanye Wests tragischen Politambitionen.
Donald Trump hat es schwer. Der Präsident wirkt ratlos und rastlos, hat Lagerkoller, weil er das Weiße Haus nur zu hermetisch abgeschirmten Mini-Events verlassen darf. Eine Rede in privatem Rahmen hier, eine rasche Werksbesichtigung dort. Seine Wahlkampfauftritte, der Jubel seiner Anhänger: Was Trump motiviert, bleibt ihm verwehrt.
Und alles wegen der Coronakrise, die hier wieder fast so tobt wie im April. Dass das auch seine Schuld ist, stört - oder sieht - Trump offenbar nicht. Obwohl die USA heute, 15 Wochen vor dem Wahltag, eine Nation im Todeskampf ist, bei dem bisher mehr als 140.000 Amerikaner an Covid-19 gestorben sind. Obwohl ihm die "New York Times" das "schlimmste Versagen präsidialer Führungskraft seit Generationen" attestiert . Obwohl die "Washington Post" von einem "Fiasko" spricht , "das die Welt schockierte".
"Wir betrauern jedes wertvolle Leben", nuschelt Trump am Dienstag tonlos, seine Berater haben es ihm offenbar ins Manuskript geschrieben.

Neuauflage einer alten Show: Trump wiederbelebtes Corona-Briefing
Foto: LEAH MILLIS/ REUTERSTrumps Umfragewerte sind kollabiert, seine Wiederwahl steht auf der Kippe, seine Tweets werden immer manischer, seine Handlungen immer panischer. Er schrumpelt wie ein Luftballon ohne (heiße) Luft, der gleich durch den Saal zischt. Die Party ist vorbei.
Verzweifelt versuchen seine Aufpasser, ihn aufzumuntern. Doch die Idee, seine Versammlungen wiederzubeleben, entpuppte sich als Flop, mehr dazu unten.
Auch die Wiederbelebung der Corona-Briefings, der Rallys im Weißen Haus, ist am Dienstag eine müde Enttäuschung. Trump 27 Minuten lang allein am Pult, ohne Taskforce-Experten. Widerwillig liest er Daten vom Blatt, die er kaum versteht. Sagt erst: "Es wird wahrscheinlich leider schlimmer werden, bevor es besser wird." Sagt dann aber: "Das Virus wird verschwinden."
Trotzdem fordert Trump die Menschen in den USA erstmals dazu auf, Masken zu tragen. Die US-Bürger sollten auf einen Mund-Nasen-Schutz zurückgreifen, wenn die Abstandsregeln nicht eingehalten werden könnten, sagt der Präsident. "Ob Sie die Masken mögen oder nicht, sie haben eine Wirkung", so Trump - bis vor Kurzem hatte er stets das Gegenteil behauptet. Und jetzt das. Was wird er seinen Anhängern noch alles zumuten?
What is the purpose of having White House News Conferences when the Lamestream Media asks nothing but hostile questions, & then refuses to report the truth or facts accurately. They get record ratings, & the American people get nothing but Fake News. Not worth the time & effort!
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) April 25, 2020
Ein weiterer Satz, der hängenbleibt, ist sein Gruß an Ghislaine Maxwell, mutmaßliche Komplizin des Sextäters und früheren Trump-Buddys Jeffrey Epstein, man kennt sich ja aus Palm Beach: "Ich wünsche ihr alles Gute, was immer das ist." Alles Gute in die U-Haft? Ist das ein Signal an die mutmaßliche "Madam"?
Corona-Kassandra Anthony Fauci lässt sich da tunlichst nicht blicken. Lieber wirft der US-Chefimmunologe am Donnerstag den symbolischen "First Pitch" der Baseballsaison. "Dr. Fauci ist ein wahrer Champion unseres Landes", erklärte das Haupstadtteam der Washington Nationals. Die hatten auch Trump letztes Jahr angefragt, vergeblich : Der "Harnisch", den er dazu tragen müsse, sei ihm zu schwer und lasse ihn "zu gewichtig" aussehen.
Nur bei einem Thema scheinen sich Trumps Augen aufzuhellen. Die paramilitärischen Bundespolizeitruppen, die er in Portland einmarschieren ließ und auch auf andere, demokratische Städte loszulassen droht, um die Black-Lives-Matter-Proteste niederzuschlagen, die erfreuen ihn. See you in Chicago, Philadelphia, New York?
Dabei begannen die wirklichen Unruhen erst mit den Trump-Truppen, die brutal auf die Demonstranten losgingen. Chaos schaffen, um es dann zu "bekämpfen", ein alter Trick. Der provozierte Kulturkrieg ist das letzte Ass, das Trump im Ärmel zu glauben hat. Die Formel: "Law & Order: MAGA".

Sind auf Befehl von Donald Trump im Einsatz: Bundespolizisten in Portland
Foto: CAITLIN OCHS/ REUTERSDie Autokratenshow in Portland war wohl keine spontane Idee, sondern lange vorbereitet. Senator Tom Cotton ebnete schon im Juni den Weg mit einem kontroversen Meinungsbeitrag für die "New York Times". "Send In the Troops" , forderte er da. Am Dienstag legte er bei Fox News nach, indem er, bar jeder Ironie, die "Aufständischen in den Straßen von Portland" mit den US-Sklavenstaaten verglich, deren Sezession 1861 den Bürgerkrieg auslöste. Mit der Rassismuskeule gegen Antirassisten, das muss man können.
On Fox & Friends, Sen. Tom Cotton compares protesters to the Confederacy: "These insurrectionists in the streets of Portland are little different from the insurrectionists who seceded from the union in 1861 in South Carolina, and tried to take over Fort Sumter." pic.twitter.com/7ylYh3N1dB
— Bobby Lewis (@revrrlewis) July 21, 2020
Dabei liegt die wahre Gefahr für die USA nicht in den linken Protesten, sondern in rechtsextremem Terror. Zu dem Schluss kamen jetzt, unabhängig voneinander, das Center for Strategic and International Studies (CSIS) und das National Capital Region Threat Intelligence Consortium , eine Beratergruppe in Washington. Die Bürgerrechtsgruppe Southern Poverty Law Center, die das schon lange sagt, hat Trumps Chefberater und Redenschreiber Stephen Miller jetzt auf seine "Extremistenliste" gesetzt .
Der Termin der Woche
Bis (oder gegen) Ende kommender Woche will Joe Biden seine Vize-Präsidentschaftskandidatin benennen. Dass diese Personalie diesmal fast eine Fußnote ist, passt in Bidens Strategie, seinen Wahlkampf lieber leise zu führen und Trump das Rampenlicht zu überlassen, in dem er sich dann selbst verbrennt, siehe oben.
Biden hat "vier schwarze Frauen" auf der Shortlist - Medienberichten zufolge Senatorin Kamala Harris, die frühere Sicherheitsberaterin Susan Rice, die Kongressabgeordnete und Ex-Polizeichefin Val Demings aus Florida und Keisha Lance Bottoms, die streitbare Bürgermeisterin von Atlanta.
Die Umfragen der Woche
Neulich sprach ich mit dem Statistiker Micah Cohen. Der Managing Editor von "FiveThirtyEight ", der wichtigsten US-Umfrageseite, fühlt den Puls der Nation. Er bestätigte mir die schlechten Wahlchancen Trumps. Zuletzt lag der landesweit um 8,8 Prozentpunkte hinter Biden (41,6 zu 50,4 Prozent). Das ist ein bisschen besser als Mitte Juli (41,2 zu 50,3 Prozent), doch Biden führt weiter in allen Swing States. Kann Trump noch gewinnen? Das erfordere "einen historisch großen Fehler in diesen Umfragen", sagt Cohen.

Wer glaubt schon den Experten? US-Chefimmunologe Fauci
Foto: Kevin Dietsch/ APVerlässlicher - und beklemmender - finde ich eine neue Ipsos-Umfrage für die Website "Axios". Demnach halten immer mehr Amerikaner, allen Realitäten zum Trotz, die offiziellen Corona-Statistiken für übertrieben und glauben, dass die Lage weit weniger schlimm sei. Die Diskreditierungskampagne des Weißen Hauses gegen Fauci wirkt also.
Demnach denkt inzwischen fast jeder Dritte solchen Unsinn - und sogar 59 Prozent der Republikaner sowie 61 Prozent der Fox-News-Zuschauer. Die Wahrheit ist dagegen genau andersrum: In manchen US-Regionen, so meldete die Gesundheitsbehörde CDC am Dienstag, betrage die reale Zahl der Corona-Infektionen sogar das Dreizehnfache der amtlichen Angaben.
Die Wahlkampffigur der Woche
Neulich sollte ich über Trumps nächsten Wahlkampfauftritt in New Hampshire berichten. Ich war schon im Auto auf halbem Wege, als die Großveranstaltung in einem Flughafenhangar kurzfristig abgesagt wurde. Angeblich wegen eines Sturms, tatsächlich schien dann die Sonne. Der wahre Grund war wohl Angst vor einem Debakel wie in Tulsa, Oklahoma, als Trump die Halle nicht mal halb füllen konnte und die maskenfreie Mini-Party trotzdem später zu Hunderten Neuinfektionen führte.

Neuer Mann an Trumps Wahlkampfsteuer: Bill Stepien
Foto: Amy Newman/ dpaEin paar Tage nach dem Flop von Portsmouth degradierte Trump seinen Wahlkampfmanager Brad Parscale und beförderte Bill Stepien auf den Schleudersitz. Stepien ist mir von früher bekannt, aus den New Yorker Regionalnachrichten. 2009 leitete er den Gouverneurswahlkampf von Chris Christie in New Jersey und sollte dort später Republikanerchef werden, doch stürzte dann über den "Bridgegate"-Skandal. Stepiens Karriere schien am Ende, bis Trump sie wiederbelebte, indem er ihn 2016 in sein Wahlkampfteam holte und danach als Berater ins Weiße Haus. Mangel an Skrupeln gilt in Trumps Team als Auszeichnung.
Der Social-Media-Moment der Woche

Tränen und Tiraden: Kanye West bei einer "Wahlkampfveranstaltung" in South Carolina
Foto: RANDALL HILL/ REUTERSEin faszinierendes, wenn auch trauriges Cross-over zwischen Politik, Twitter und Wahn bot Kanye West, der Rapper, der mehr sein will. Der hatte am US-Unabhängigkeitstag ja seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt - ein Remake eines alten Hits von 2015 .
"Kanye 2020" verpuffte jedoch nach einem bizarren, tränenreichen Auftritt am Sonntag. In einer seither gelöschten Twitter-Tirade griff er danach Ehefrau Kim Kardashian an - sie habe ihn "mit einem Doktor einsperren" wollen. Die Episode ist leider nicht amüsant: West leidet an bipolaren Störungen. Was die Frage aufwirft, wie die Medien mit einem psychisch labilen Prominenten umgehen sollten. Am Dienstag twitterte West, er werde sich "auf seine Musik konzentrieren", samt Playlist eines neuen Albums. Vielleicht war das sowieso der Plan.
Unsere USA-Storys der Woche
Diese Beiträge unseres Teams möchte ich Ihnen ans Herz legen:
Roland Nelles analysiert Trumps wachsende Wahlkampfpanik,
Ralf Neukirch berichtet aus Georgia über den einsamen Corona-Kampf der Bürgermeister gegen Trump,
Susanne Koelbl und René Pfister interviewen John Bolton, den abtrünnigen Ex-Sicherheitsberater Trumps.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche!
Herzlich,
Ihr Marc Pitzke