Völkermord im Jugoslawienkrieg Der Totengräber von Srebrenica

Der Bauer Ramiz Nukić hat das Massaker von Srebrenica überlebt. Bis heute sucht er in den ostbosnischen Bergen Leichen der Opfer. Er will nicht aufgeben, bis alle Ermordeten bestattet sind.
Ramiz Nukić findet auch ein Vierteljahrhundert nach dem Gemetzel noch Knochen und Kleidung der Toten

Ramiz Nukić findet auch ein Vierteljahrhundert nach dem Gemetzel noch Knochen und Kleidung der Toten

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Keno Verseck

Ramiz Nukić lebt inmitten idyllischer Natur. Sein Haus steht an einem sanften Berghang, ringsumher Wald, Heuwiesen und Obsthaine. Einige Schafe grasen friedlich. Der Blick ins Tal und über die Berge in der Ferne ist wunderschön.

Doch die Idylle trügt. Denn die Erde hier ist vollgesogen mit dem Blut ermordeter Menschen. Und sie ist noch voller Knochen. Dazu alte Kleidungsstücke, Konservendosen, Blechtassen – das wenige, was Menschen einstecken, wenn sie um ihr Leben rennen.

Ramiz Nukić trug auf der Flucht nur einige Ausweispapiere bei sich und eine Pistole mit ein paar Patronen. Die letzte Kugel wäre für ihn selbst gewesen, sagt er. Er habe nicht damit gerechnet zu überleben. Heute ist er mit seinem kleinen, alten Traktor und einem Anhänger in ein Waldstück auf den Steinernen Berg gefahren, einige hundert Meter von seinem Haus entfernt. Vor einigen Tagen hat er dort Fundsachen aufgehäuft, alte Jacken, Schuhe.

300 Ermordete entdeckt

Er sucht jetzt weiter. Mit einem Stock durchkämmt er die Laubschicht. Es dauert nicht lange und er findet drei Knochen: »Ein Oberschenkel und vermutlich Teile vom Oberarm.« Dann legt er sie respektvoll neben einen Baum und bedeckt sie mit Blättern und Ästen.

Die Opfer werden auch anhand von Kleidungsstücken oder persönlichen Gegenständen identifiziert

Die Opfer werden auch anhand von Kleidungsstücken oder persönlichen Gegenständen identifiziert

Foto: Keno Verseck

Ramiz Nukić ist Bauer und hat nie ein Anatomiebuch in der Hand gehabt. Aber er hat gelernt, welche Knochen Menschen gehören und welche zu Tieren. Er wird nun Gerichtsmediziner verständigen und sie zur Fundstelle führen. Sie werden alles fotografieren und die Funde später durch DNA-Vergleiche zuordnen.

Kamenice, ein Weiler in den Bergen Ostbosniens. Ramiz Nukić, 58, ist hier geboren. Er hat hier im Juli 1995 den Völkermord von Srebrenica überlebt. Er ist zurückgekehrt, er hat sein zerstörtes Haus wieder aufgebaut – und er sucht hier bis heute nach Überresten der Opfer.

Nukić hat fast 300 Personen gefunden, die in einem Umkreis von mehreren Kilometern starben. »Ich weiß nicht, ob Gott mir diese Aufgabe gegeben hat«, sagt er. »Wenn ich suche, ist es sehr schwer, weil ich all die schrecklichen Bilder von damals jedes Mal von Neuem sehe. Aber ich muss und will suchen. Es ist etwas, das aus meinem Herzen kommt.«

Von Kamenice aus sind es bis in die Stadt Srebrenica fünfzehn Kilometer Luftlinie. Im Juli 1995, als die Armee der bosnischen Serben in die dortige Uno-Schutzzone einmarschiert, fliehen an die 15.000 überwiegend unbewaffnete muslimische Männer und Jungen. Ihr Ziel ist das befreite Gebiet nahe der Stadt Tuzla, siebzig Kilometer nordwestlich. Tagelang irren sie durch die verminten Wälder. Die Soldaten des Generals Ratko Mladić feuern auf sie mit Granaten und Raketen. Es ist eine Menschenjagd, sie mündet in das schlimmste Massaker in Europa nach 1945.

Auch Ramiz Nukić ist unter den Flüchtenden. Am Steinernen Berg gerät seine Kolonne am Morgen des 12. Juli 1995 in einen Hinterhalt. Im Granatenhagel sterben Hunderte Menschen. Er kauert in einiger Entfernung vom Zentrum des Angriffs zwischen Bäumen und Sträuchern. Nukić überlebt und läuft weiter, fünf Tage lang. Sein Vater und zwei seiner Brüder werden gefangen genommen und später ermordet.

Vater und Brüder im Massengrab

Seit Generationen sind Nukićs Vorfahren in der Gegend um Kamenice ansässig. Auch für ihn selbst kam niemals infrage, seine Heimat auf Dauer zu verlassen. Er kehrte 2002 zurück trotz des Grauens, das für ihn auf immer mit dem Ort seiner Kindheit verknüpft ist.

Ramiz Nukić, der Bauer, hat gelernt, Meschen- und Tierknochen auseinanderzuhalten

Ramiz Nukić, der Bauer, hat gelernt, Meschen- und Tierknochen auseinanderzuhalten

Foto: Keno Verseck

In den Trümmern seines Hauses fand er die Überreste von Toten. Er rief beim Podrinje-Identifikationsprojekt (PIP) in Tuzla an. Das Institut mit dem unscheinbaren Namen ist seit zwei Jahrzehnten eine weltweit führende Institution. Die PIP-Leute sind Experten darin, Knochen, Kleidung und andere Überreste mit den Namen von vermissten Personen zusammenzubringen. Und davon gibt es viele in der bosnischen Erde, seit dem völkermörderischen Krieg in den Neunzigerjahren.

»Mir kam damals die Idee, nach meinem Vater und meinen Brüdern zu suchen«, erzählt Nukić. »Sie wurden später anderswo in Massengräbern gefunden. Aber ich habe weitergemacht mit meiner Suche nach den Toten.«

Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Soldaten in der Gegend um Srebrenica und im nördlichen Drinatal mehr als 8000 Menschen, fast alle waren muslimische Männer und Jungen. Die meisten Opfer wurden in den ersten Jahren nach dem Völkermord in Massengräbern gefunden. Doch auch heute gibt es immer wieder Funde von Ermordeten. Sie liegen verstreut in den Wäldern und Felsnischen, nur notdürftig verscharrt.

Identifiziert wurden bisher die Überreste von rund 7000 Menschen. Es ist das Verdienst von Rifat Kešetović und seinem Team. Der Professor für forensische Pathologie an der Universität Tuzla leitet das Podrinje-Identifikationsprojekt seit 1999. Angegliedert ist es der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP), die 1996 für die Opfer des Bosnienkrieges gegründet wurde und die inzwischen weltweit Projekte unterhält.

Das PIP ist am nördlichen Stadtrand von Tuzla untergebracht. In einer großen gekühlten Halle lagern, in Plastiksäcke verpackt, die Überreste Tausender noch nicht vollständig identifizierter Personen. Hier wird die DNA eines jeden Knochens mit der DNA aus Blutproben von Angehörigen abgeglichen. Die Gerichtsmediziner versuchen auch, Todesursachen und Tathergänge zu rekonstruieren.

Die Überlebenden sollen Frieden finden

Rifat Kešetović hat sein Büro in einer Containerbaracke, die vollgestopft ist mit Aktenordnern. Zu seinen Aufgaben gehört auch, Angehörigen mitzuteilen, wenn ihre ermordeten Verwandten identifiziert sind und wo die Überreste gefunden wurden. Er koordiniert zudem die Übergabe von Beweismaterial an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. »Die Erfahrungen der ICMP bei der Suche nach Vermissten, insbesondere wegen des Einsatzes von DNA-Technologie, sind sicher unschätzbar und weltweit Pionierarbeit«, sagt Kešetović. »Wir konnten im Fall Srebrenica das Schicksal von über 80 Prozent der Vermissten aufklären. Aber wir sollten nicht vergessen, wie sich Familien fühlen, die noch immer nichts über das Schicksal ihrer Lieben wissen.«

Kešetović ist ein bescheidener Mann, der nur widerwillig Interviews gibt. Die Angehörigen von Opfern sprechen mit großer Ehrfurcht und Hochachtung von ihm und der Arbeit seines Teams. »Für uns Überlebende ist es vor allem wichtig, dass wir unsere ermordeten Liebsten bestatten und einen Ort haben, an dem wir für sie beten können«, sagt Hasan Hasanović vom Srebrenica Memorial in Potočari. Er hat auf dem Todesmarsch von Srebrenica seinen Vater und seinen Zwillingsbruder verloren.

Auch von Ramiz Nukić sprechen viele überlebende Angehörige mit großer Dankbarkeit. Denn kein anderer Einzelner in Ostbosnien sucht so unermüdlich und seit so langer Zeit nach den Opfern des Völkermordes.

Nukić wohnt mit seiner Frau, seiner Tochter und drei Enkelkindern in ärmlichen Verhältnissen. Sie leben von dem Obst und Gemüse, dass sie auf ihren Äckern anbauen, manchmal verkaufen die Nukics etwas auf Märkten in der Umgebung.

Die meisten in Bosnien, die sich mit dem Massaker von Srebrenica irgendwie befasst haben, kennen Nukićs Namen. Aber niemand bezahlt ihn für seine Suche. Und keine bosnische Regierung hat ihn je ausgezeichnet – obwohl die Erinnerung an den Völkermord von Srebrenica ein zentrales Element in der Identität des bosnischen Staates ist. Trotzdem sagt er: »Ich werde weitersuchen, solange ich kann und solange das letzte Opfer nicht gefunden ist.«

DER SPIEGEL
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