Russischer IT-Insider packt aus »Ich wollte nicht mehr an Projekten für den FSB beteiligt sein«
»Jewgenij«, ehem. Vulkan-Mitarbeiter
»Ich habe Vulkan verlassen, weil ich nicht mehr an der Entwicklung von Projekten für den FSB beteiligt sein wollte.«
Jewgenij, der eigentlich anders heißt, packt aus über seine ehemalige Firma. Seit einigen Jahren lebt der Russe im westlichen Ausland. Das internationale Rechercheteam, an dem auch DER SPIEGEL beteiligt war, darf das Gespräch mit ihm mit der Kamera dokumentieren – doch er muss unkenntlich bleiben. Insiderwissen weiterzugeben ist gefährlich. Als junger Mann heuerte Jewgenij bei dem IT-Unternehmen Vulkan in Moskau an. Das Werbevideo der Firma betont das angenehme Arbeitsumfeld.
Zuerst, sagt der ehemalige Mitarbeiter, war alles wie in einem normalen IT-Unternehmen, die Arbeit interessant. Aber irgendetwas war doch etwas anders.
»Jewgenij«, ehem. Vulkan-Mitarbeiter
»Der einzige Unterschied zu anderen IT-Unternehmen war, dass es zu viel sicherheitsrelevantes Zeug gab. Überall, wo man hinging, musste man eine Chipkarte einsetzen. Es war oft sogar schwierig, Zugangsrechte für den nächsten Raum zu bekommen. Wenn man mit seinen Kollegen reden oder sie zum Mittagessen einladen wollte, gab es eine Klingel, die man läuten konnte. Dann wurde man durch die Kamera gesehen und konnte hereingelassen werden.«
Die Vulkan-Files-Recherche zeigt: Die Softwarefirma, die sich auf ihrer Internetpräsenz wie jede andere Firma darstellt, ist eine Art Techzulieferer der russischen Geheimdienste. Ein Kunde saß hier, an der Lubjanka im Zentrum Moskaus, im Zentrum für Informationssicherheit – direkt neben der Zentrale des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB.
»Jewgenij«, ehem. Vulkan-Mitarbeiter
»Ich habe erst später angefangen zu verstehen, dass die Arbeit in Richtung Informationssicherheit oder Staatssicherheit geht. Ursprünglich gab es eine ganze Menge an Software, die ziemlich umfangreich genutzt werden konnte. Die Möglichkeiten für den Einsatz der Software sind sehr vielfältig. Daher war nicht klar, für wen wir arbeiten und was wir taten.«
Die Firma entwickle Angebote oder elektronische Komponenten, mit deren Hilfe die Rechte und die Freiheit der Bürger in Russland eingeschränkt werden – sagt Jewgenij. Weil die Firma im Bereich der staatlichen Sicherheit arbeitet, verdiene sie viel Geld. Deswegen hatte auch er als Mitarbeiter ein Gehalt, das über dem Marktpreis lag.
Ein Auftrag lautete einem Firmeninsider zufolge: Ausspähen. Ein beliebtes Mittel vor allem nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl 2018. Damals zementierte Wladimir Putin seine Macht – und es gab immer wieder Proteste gegen den Kremlchef, zu denen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aufrief.
»Jewgenij«, ehem. Vulkan-Mitarbeiter
»Als ich in die Firma kam, hatte ich absolut kein Interesse an Politik. Es war mir wichtig, dass ich ein hohes Gehalt bekomme. Ich arbeite mit Technologien, die ich mag, und ich schaffe etwas Neues. Später aber halfen mir meine Kollegen zu verstehen, dass das, was um mich herum passiert, auch ein bisschen von mir abhängt. Das heißt, ich kann nicht einfach nur zuschauen, sondern muss etwas tun, um das Umfeld um mich herum zu verbessern.«
Das Rechercheteam trifft Marina Krotofil in der Schweiz. Die Ukrainerin arbeitet seit Jahren als Expertin für Cybersicherheit. Sie beobachtet, wie Russland seit 2014 aktiv hybride Kriegsführung in der Ukraine betreibt. Dabei spielen Unternehmen wie Vulkan eine wichtige Rolle, sagt sie.
Marina Krotofil, Sicherheitsforscherin / Expertin für kritische Infrastruktur
»Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass Russland seine Cyberfähigkeiten zentralisiert – oder, sagen wir, die Fähigkeit zur zentralen Verwaltung von Cyberoperationen entwickelt. Wir wissen, dass Russland Cyberoperationen gut beherrscht und dabei mit Großmächten wie China und den USA mithalten kann. Wir beobachten, dass es nun versucht, eine einheitliche Infrastruktur aufzubauen, statt einzelne Operationen durchzuführen. Zudem verlagern sie die Zuständigkeit, zumindest in diesem speziellen Fall, an das Verteidigungsministerium. Wir sehen also, dass die Russische Föderation das Cyberspace für kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Staaten nutzt.«
Region Donezk, Ukraine
Eine zentrale Strategie Russlands im Krieg gegen die Ukraine: gezielte Angriffe auf die kritische Infrastruktur wie Kraftwerke oder die Wasserversorgung – meist noch mit Waffengewalt statt durch Hacker.
Mariupol, Ukraine
Für die Zukunft erwartet die Expertin aber vermehrt Cyberattacken. Anzeichen dafür sieht sie etwa in den von Russland eroberten Gebieten. Wie hier Mariupol: Beim Wiederaufbau spielt Desinformation eine wichtige Rolle, also das gezielte Lancieren einer Fake-News-Parallelwelt. Eine komplexe Operation.
Marina Krotofil, Sicherheitsforscherin / Expertin für kritische Infrastruktur
»Wir wissen, dass in den besetzten Gebieten alle Basisstationen von den ukrainischen Betreibern abgeschaltet sind und die Menschen keinen Zugang zum Internet haben – oder nur Zugang zu den von Russland bereitgestellten Ressourcen. Sobald Stadtgebiete befreit sind, erfahren wir, dass die Menschen nur Zugang zu ausgewählten Informationsquellen haben, also Videos, Webseiten und so weiter. Wir sehen also, dass Russland diesen parallelen Informationsraum bereitstellt, der mit dem, was wirklich passiert, nicht übereinstimmt. Und das ist natürlich sehr besorgniserregend, da ja auch der Zugang zu Nachrichten ein Grundrecht ist.«
Wie die geleakten Unterlagen zeigen, liefern Firmen wie Vulkan die Software für die Umsetzung dieser Strategie. Laut Vulkan Files wurde hier die Infrastruktur für Cyberangriffe und groß angelegte Desinformationskampagnen entwickelt – für eine breite Kundschaft. Vulkan, das legen die Dokumente nahe, arbeitet schließlich mit allen zusammen: mit dem Verteidigungsministerium, dem Militär und den drei wichtigsten Nachrichtendiensten Russlands: Militärgeheimdienst, Inlandsgeheimdienst und Auslandsgeheimdienst. Das hat der Geheimdienstexperte Andrej Soldatow, der an den Vulkan-Files-Recherchen beteiligt war, so noch nicht gesehen:
Andrej Soldatow, investigativer Journalist und Geheimdienstexperte
»Ich war etwas überrascht, dass in diesem Fall ein privates Unternehmen gleichzeitig für die russischen Sicherheitsdienste und den militärischen Nachrichtendienst arbeitet. Denn jahrelang wurde angenommen, dass zumindest der FSB und das Militär sich nicht ausstehen können. Sie haben einige Interessenkonflikte. Sie konkurrieren um Ressourcen. Aber in diesem Fall sehen wir, dass ein Unternehmen einen Weg gefunden hat, für beide zu arbeiten. Und es ist recht interessant, dass sie ihre Aufträge von der Forschungseinrichtung erhalten, die eine Tarnfirma für den FSB ist, um etwas für das Militär zu entwickeln. Das hilft uns zu verstehen, wie eng die Zusammenarbeit dieser Behörden unter Putin geworden ist.«
Auf die Frage, was der Quelle der Vulkan Files wohl passieren würde, hat Soldatow nur eine knappe Antwort übrig:
Andrej Soldatow, investigativer Journalist und Geheimdienstexperte
»Nun, ich hoffe, diese Person ist außer Landes.«
Aussteiger wie Jewgenij, der sein Insiderwissen gegenüber der Recherchegruppe nun preisgibt, leben ebenfalls gefährlich. Und dennoch hat er sich zu diesem Schritt entschieden.
»Jewgenij«, ehem. Vulkan-Mitarbeiter
»Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich mich mit Ihnen treffen soll und Ihnen sagen sollte, was ich weiß. Ich habe für mich selbst entschieden, dass das Regime, das jetzt an der Macht ist – es ist ein Polizeistaat. Und eine der Säulen dieses Staates sind Unternehmen wie Vulkan. Sie entwickeln Software, die gegen die Bevölkerung oder gegen andere Länder eingesetzt werden kann. Und ich denke, dass mein Interview dazu beitragen wird, die Zeit zu verkürzen, in der das derzeitige Regime an der Macht sein wird. Das ist wohl der Grund, warum ich mit Ihnen spreche.ֿ«