Streit über Rechtsstaatlichkeit 300 Etappenziele und Milliarden an EU-Geldern für Polen

Premier Mateusz Morawiecki: Zum Kompromiss gezwungen
Foto: Ronald Wittek / EPADieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Mateusz Morawiecki, Premier-Minister in Warschau, ist nicht gerade bekannt für überschwängliche emotionale Ausbrüche – auch nicht, wenn sich Besuch angekündigt hat. Am Mittwoch wird er gefragt, welchen Zweck der Besuch von Ursula von der Leyen in seiner Hauptstadt hat. Die EU-Kommissionschefin kommt schließlich mit froher Botschaft: Grundsätzlich hat die EU-Kommission zugestimmt, Polen Milliarden an Coronageldern auszuzahlen. Trotzdem antwortet Morawiecki betont ungerührt. Der Besuch diene dazu, die Übereinkunft seines Landes mit Brüssel »zu krönen«. Dieser Zeremonie ist heftiger Streit vorangegangen, monatelang. Polen befand sich in einer Lage, die einem Nationalkonservativen wie Morawiecki wenig zusagt: kritisiert, gemaßregelt von außen und zum Kompromiss genötigt.
Wie kam es dazu, dass Brüssel Polen die Coronahilfen Polen bis jetzt vorenthielt?
Die polnische Regierung hat bereits im Mai 2021 ihren Corona-Wiederaufbauplan bei der EU-Kommission eingereicht. Er umfasst 23,9 Milliarden Euro an nicht zurückzuzahlenden Zuwendungen sowie 11,5 Milliarden an Krediten. Diese Gelder wurden dem Land auch prinzipiell zugestanden – aber nicht ausgezahlt. Denn die nationalkonservative Regierung in Warschau verstößt nach Ansicht der Kommission massiv gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Ihre umstrittene Justizreform höhlt das Prinzip der Gewaltenteilung aus, denn sie erhöht den Einfluss der Politik auf die Rechtsprechung. So befand auch der Europäische Gerichtshofs (EuGH) in mehreren Urteilen.
Wie viel Geld bekommt Polen jetzt?
Erst einmal gar keines: Vor der ersten Überweisung muss Polen Etappenziele erfüllen, das Geld wird dann nach und nach ausgezahlt. Auf diese haben sich Warschau und Brüssel in monatelangen Verhandlungen geeinigt. Ob und wann diese Ziele erreicht sind, entscheidet allein die Kommission.
Welche Bedingungen muss Polen erfüllen?
Der Wiederaufbauplan, den Polens Regierung gemeinsam mit der Kommission entwickelt hat, enthält fast 300 Etappenziele. Darin geht es auch um Themen wie den Arbeitsmarkt oder den Klima- und Umweltschutz, doch die bei Weitem strittigste Frage war die Justizreform der polnischen Regierung. Vor allem muss die polnische Regierung nun die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, die trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) weiterbesteht, abschaffen und durch ein Gericht ersetzen, das die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs erfüllt.
Außerdem müssen alle Richter, die von der Disziplinarkammer gerügt oder aus dem Job entfernt wurden, die Möglichkeit bekommen, deren Urteile durch ein rechtmäßiges Gericht überprüfen zu lassen – und außerdem soll das Disziplinarsystem für Richter reformiert werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf hat vergangene Woche den Sejm, das polnische Parlament, passiert und muss noch vom Senat verabschiedet werden.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Brüssel und Polen sich endgültig einig werden?
Es gilt als ziemlich sicher, dass die EU-Kommission Warschau entgegenkommt. Das hat wohl auch mit politischen Erwägungen zu tun. Polen ist Frontstaat im Ukrainekrieg und hat Millionen von Flüchtlingen aufgenommen. Es gehe Brüssel wohl derzeit auch darum, die »Einheit der EU« zu wahren, sagt der ehemalige EU-Botschafter in Polen, Marek Prawda. Derzeit könne sich Europa keine Spaltung entlang der Rechtsstaatsfrage leisten. Vor allem deshalb nicht, weil Ungarn, wegen Rechtsstaatsproblemen ähnlich in der Kritik, derzeit keine Anstalten macht, sich der EU anzunähern.
Was passiert, falls Polen das Geld erst kassiert und seine Reformen danach rückgängig macht?
Für diesen Fall enthält der Wiederaufbauplan eine Klausel, die es der Kommission ermöglicht, bereits ausgezahlte Gelder zurückzufordern. Sollte die polnische Regierung eine Erstattung verweigern, könnte die Kommission das Geld von anderen Fördermitteln einbehalten – von denen Polen so viel bekommt wie kein anderes EU-Land. Dieses Verfahren wendet die Kommission bereits in einem anderen Fall an: Der EuGH hat gegen Polen wegen der Missachtung seiner Urteile hohe Bußgelder verhängt, deren Zahlung Warschau ablehnt. Die Kommission hat deshalb seit Jahresanfang schon Fördergelder in dreistelliger Millionenhöhe einbehalten, die an Polen hätten fließen sollen.

Ukrainische Flüchtlinge in Polen: Die Einheit der EU bewahren
Foto: ANGELOS TZORTZINIS / AFPWären Polens Rechtsstaatsprobleme mit der Erfüllung der Bedingungen im Coronaplan gelöst?
Wahrscheinlich nicht. Die Kommission hat mit der Zurückhaltung der Coronagelder nur eine von vielen Rechtsstaatsfragen aufgeworfen. Kritiker in Polen sagen, dass auch das statt der illegalen Disziplinarkammer nun eingerichtete neue Richter-Kontrollgremium noch zu sehr politischem Einfluss unterliegt.
Das liegt vor allem an der Struktur des Gremiums, das alle Richter in Polen beruft: der Landesjustizrat (KRS). Die regierenden Nationalkonservativen haben ihn so umgebaut, dass seine Mitglieder zum großen Teil von der Parlamentsmehrheit bestimmt werden – und damit politischem Einfluss unterliegen. »Der KRS ist illegal, ein Tumor«, sagt etwa der Warschauer Richter Piotr Gąciarek. Rund 2000 Berufungen des KRS seien zweifelhaft. Auch der EuGH hatte in einem Urteil politische Einflussmöglichkeiten auf den KRS kritisiert. Nur Tage vor ihrem Besuch in Warschau hatten polnische Juristen in einem Brief an Ursula von der Leyen appelliert, nicht nachzugeben: »Ohne die Abschaffung des KRS gibt es keine Rechtsstaatlichkeit in Polen.«
Welche anderen Möglichkeiten hat die EU, Polen doch noch auf europäische Rechtsgrundsätze einzuschwören?
Wenige. Viele Verstöße können aus Brüssel nur schwer geahndet werden. Zum Beispiel hatte das Warschauer Verfassungstribunal befunden, dass polnisches Recht über dem EU-Recht rangiert. Auch hatten Lokalparlamente in etlichen Wojewodschaften des Landes homosexuellenfeindliche Grundsatzerklärungen verabschiedet.
Zwar läuft gegen Polen schon seit Längerem ein Verfahren nach Artikel 7 des Lissaboner EU-Vertrags wegen des Verstoßes gegen die Grundwerte der EU. Dies kann theoretisch zum Entzug der Stimmrechte Polens in der EU führen. Allerdings müsste dies einstimmig von allen anderen Mitgliedsländern beschlossen werden – und Ungarn, gegen das ebenfalls ein Artikel-7-Verfahren läuft, hat Polen bereits zugesichert, Strafmaßnahmen mit seinem Veto zu verhindern.
Wie wirkungsvoll ist der neu geschaffene Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushalt?
Auch seine Reichweite ist begrenzt. Der Mechanismus, den es seit Anfang des Jahres im mehrjährigen Finanzrahmen der EU gibt, erlaubt den Entzug von Fördermitteln an Länder, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Allerdings gilt hier die gleiche Einschränkung wie beim Coronafonds: Es können nur Verstöße geahndet werden, die konkreten finanziellen Schaden für die EU zur Folge haben. Im Falle Polens hieße das: Brüssel muss detailliert den Nachweis führen, dass die Regierungspartei gezielt einen Richter hat berufen lassen, der dann die Veruntreuung von Geld gedeckt hat – ein äußerst schwieriges Unterfangen.