Weltparlament der Bürgermeister Städte an die Macht

Passanten in Tokio: "Städte haben die Bereitschaft zur Kooperation stärker in ihrer DNA als Nationalstaaten"
Foto: Kenichi Matsuda/ APOb Klimawandel, Finanzkrisen oder jüngst die Coronakrise: In einer globalisierten Welt überschreiten politische Herausforderungen immer öfter bisherige Grenzen. Was auf einem Markt im chinesischen Wuhan passiert, kann Todesopfer in Mannheim fordern; was im brasilianischen Urwald vor sich geht, kann das Klima in Chemnitz verändern. Weil kein Staat allein die Erderwärmung oder eine Pandemie stoppen kann, braucht es zunehmende Kooperation. Eigentlich.
Doch noch immer sind es vor allem nationale Interessen, die Verhandlungen über Umweltschutz, Wirtschaftspolitik oder Seuchenbekämpfung dominieren. Die Nationalstaaten beharren auf ihre Souveränität, und es zeigt sich, dass sogar etablierte supranationale Einheiten wie die EU in ihrem Fortbestand gefährdet sind. Das Drama um den Brexit hat eindrucksvoll vorgeführt, wie die nationale Sehnsucht nach Selbstbestimmung neue globale Realitäten zu ignorieren vermag.
In der Politikwissenschaft wurden noch in den Neunzigerjahren spektakuläre Ideen entwickelt: Eine Weltregierung könne man bilden, wurde argumentiert, vielleicht sogar eine kosmopolitische Demokratie entwerfen, um globale Probleme zu lösen. Zwei Jahrzehnte später geht der Trend genau in die gegenteilige Richtung: Der Nationalstaat gewinnt wieder an Bedeutung, obwohl er längst abgeschrieben schien.
Ein Denker, der schon früh argumentierte, dass eine Weltregierung überhaupt nur dann gelingen kann, wenn auch das Gefühl der Menschen Berücksichtigung findet, zu einer bestimmten lokalen oder regionalen Gemeinschaft zu gehören, ist der vor drei Jahren verstorbene US-Politologe Benjamin Barber. Er plädierte dafür, die Demokratie in Städten zu verankern, also dort, wo sich die Menschen am nächsten sind, und zugleich ein Weltparlament der Bürgermeister zu gründen, um grenzüberschreitende Fragen vernetzt zu regeln. Dem SPIEGEL sagte er einst:
Benjamin Barber (1939-2017)
Selten wird aus einem politikwissenschaftlichen Konzept so schnell ein reales Projekt wie in diesem Fall: Das "Global Parliament of Mayors" existiert mittlerweile, wenn auch bislang nur mit gut 50 Bürgermeistern. Sie stammen aus Amsterdam, Dakar, Kandahar oder Atlanta. Ihr Vorsitzender ist der Deutsche Peter Kurz.

Dr. Peter Kurz, Jahrgang 1962, ist seit 2007 Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. Neben seiner Funktion als Präsident des Städtetags Baden-Württemberg leitet er das von dem Politikwissenschaftler Benjamin Barber initiierte Weltparlament der Bürgermeister. Vor seiner politischen Karriere arbeitete Kurz als Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe.
SPIEGEL: Herr Kurz, wie haben Sie Benjamin Barber bis zu seinem Tod erlebt? Was war er für ein Mensch?
Kurz: Er war eine inspirierende und überzeugende Persönlichkeit, beseelt von der Vorstellung, Menschen zusammenzubringen und den sozialen Zusammenhalt vor Ort zu stärken. Er hatte die starke politische Überzeugung, dass es die kommunale Ebene ist, die das Alltagsleben und die weltweit verbindenden Fragen adressieren kann und dabei eine noch entscheidendere Rolle spielen muss. Mit der These steht er übrigens nicht allein da. Aber er hat seinen Standpunkt mit einer packenden, positiven politischen Rhetorik amerikanischer Prägung vermittelt.
SPIEGEL: Mannheim und Sie persönlich waren bereits an der Gründung des Weltparlaments der Bürgermeister beteiligt. Wie kam es dazu?
Kurz: Barber hat damals über sein persönliches Netzwerk Bürgermeisterinnen und Bürgermeister angesprochen, um sie zu dieser gemeinsamen Initiative zu bewegen. Auf diese Weise hat sich ein großer Teil derjenigen gefunden, die 2016 beim Start der Initiative dabei waren. Dass aus dem ersten Impuls mehr erwachsen konnte, ist entscheidend der Stadt Den Haag zu verdanken, die dem Weltparlament ein Sekretariat zur Verfügung stellte und eine Auftaktkonferenz organisierte.
In seinem Buch "If mayors ruled the world" ("Wenn Bürgermeister die Welt regieren würden") schreibt Barber, die Demokratie in ihrer nationalstaatlichen Form stecke in einem Dilemma: Probleme wie Migration, Terrorismus oder Pandemien seien grenzübergreifend, gleichzeitig werde Politik in einem teilweise 400 Jahre alten Staatsmodell betrieben. "Wir versuchen mit einem Konzept aus dem 17. Jahrhundert, Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Das ist asymmetrisch", sagte Barber dem SPIEGEL.

Benjamin Barber (1939-2017), ehemaliger Berater des früheren US-Präsidenten Bill Clinton
Foto: CTK Photo/ imago imagesSPIEGEL: Für Barber ist der Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung nicht mehr die geeignete Maßstabsebene, um politische Probleme zu lösen. Warum soll es denn ausgerechnet auf städtischer Ebene besser klappen?
Kurz: Auch wenn er uns alle inspiriert hat und wir seinem Grundgedanken gefolgt sind, haben wir mit Barber oft kontrovers diskutiert und teilen natürlich nicht alle seine Thesen. Ich denke nicht, dass man den Nationalstaat einfach überwinden und ihn ersetzen kann, sondern ich bin davon überzeugt, dass wir Ergänzungen brauchen. Ich lebe übrigens auch nicht in dem Glauben, dass Bürgermeister per se bessere Menschen sind (lacht). Aber wir sammeln strukturell andere Erfahrungen und entwickeln zwangsläufig einen anderen Stil. Da hat Barber recht. Ich glaube, wirklich schlagend ist die Überlegung, dass der Nationalstaat mit seinem Anspruch von Unabhängigkeit in gewisser Weise einer Welt voller wechselseitiger Abhängigkeiten nicht gerecht wird.
SPIEGEL: Das Grundprinzip nationalstaatlicher Souveränität ist also überholt?
Kurz: Es ist jedenfalls, und das erleben wir jeden Tag, zu einem erheblichen Teil obsolet. Zum Konzept des Nationalstaates gehört ja das Selbstverständnis, die Dinge tatsächlich für sich selbst regeln zu können. Heute ist das aber bei vielen Themen nicht mehr möglich, wir sind zur globalen oder weltregionalen Zusammenarbeit verpflichtet. Und die Städte können hierbei eine wichtige Rolle spielen, weil sie die Bereitschaft zur Kooperation stärker als Nationalstaaten in ihrer DNA haben.
Für Benjamin Barber war klar, dass global vernetzte Städte die Rettung für die Demokratie darstellen könnten. Immer mehr Menschen lebten in Städten, die praktischen Fragen des Zusammenlebens seien hier besonders akut und besonders zugänglich für Bürgerbeteiligung: Themen wie Mietpreise, Verkehr, Bildung oder Energieversorgung mobilisierten Menschen, weckten demokratische Leidenschaft, verlangten nach pragmatischen Lösungen. Stadtpolitiker seien nah an den Bürgern, sie müssten liefern: wenn der Müll stinkt, die Hitze zum Problem wird, Menschen keine Wohnung mehr finden, die U-Bahnen überfüllt sind. Gleichzeitig könne man diese Kompetenzen weltweit bündeln, um Lösungen gegen den Klimawandel zu finden, globale Immobilienspekulation zu bekämpfen oder Kinderbetreuung zu verbessern.
SPIEGEL: Wie sieht Ihr Plan für eine Welt mit politisch gestärkten Städten aus?
Kurz: Unsere Grundidee ist es, das System der nationalstaatlichen Organisation und der internationalen Übereinkünfte zu ergänzen durch eine Bewegung auf der kommunalen Seite. Ein Gedanke, der mir sehr wichtig ist und der bei uns in Deutschland bereits viel akzeptierter ist als in anderen Weltteilen, lautet, dass nachhaltige Entwicklung ohne selbstständig aktionsfähige Städte nicht sinnvoll erreicht werden kann. Wir brauchen die kommunale Selbstverwaltung. Sie trägt zu einer positiven Wohlstandsentwicklung bei. Unser Anliegen ist also etwas, das wir als "City Rights Movement" bezeichnen: eine Stadtrechtebewegung.
SPIEGEL: Bislang sind nur gut 50 Bürgermeister an Ihrer Initiative beteiligt. Das klingt noch nicht nach einem Weltparlament, auch wenn die Damen und Herren aus allen Weltteilen stammen.
Kurz: Es gibt natürlich die Bestrebung, das Parlament zu erweitern. Im Moment scheitert dies vor allem am Geld, denn wir sind zu einem erheblichen Teil selbstfinanziert. Unser Netzwerk ist aber schon jetzt weit größer als die 50 Mitglieder. Letztes Jahr waren auf unserer Jahresversammlung 75 Oberbürgermeister, was für internationale Konferenzen ein hoher Wert ist, weil zumeist nicht die politischen Spitzen der Städte repräsentiert sind. Für unsere Konferenz in Palermo rechnen wir mit deutlich über 100 Oberbürgermeistern. Wir erleben auch viel Zuspruch aus dem Bereich der Experten und der Wissenschaft für unser politisches Ziel, eine formale Repräsentanz für unsere Anliegen zu schaffen und eine Erweiterung des Uno-Systems zu erreichen.