Mikhail Zygar

Eroberungen und Unterdrückung Wie Russland die Augen vor seiner Kolonialgeschichte verschließt

Mikhail Zygar
Eine Kolumne von Mikhail Zygar
Russland hat jahrhundertelang andere Länder und Völker unterdrückt. Warum fällt es vielen Russen so schwer, sich das einzugestehen? Am verworrensten ist ihre Beziehung zur Ukraine.
Putin bei einer Rede anlässlich des 75. Jahrestages zum Sieg über Hitlerdeutschland. Bis heute rühmt sich Russland, »die ganze Welt gerettet« zu haben

Putin bei einer Rede anlässlich des 75. Jahrestages zum Sieg über Hitlerdeutschland. Bis heute rühmt sich Russland, »die ganze Welt gerettet« zu haben

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Sergey Pyatakov / dpa

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Viele Russen hassen es, wenn unser Land als Kolonialreich bezeichnet wird. Sie empfinden das als Beleidigung. Auch ich erinnere mich noch gut daran, wie mich das traf, und ich bis vor einigen Jahren noch darüber diskutierte.

Es gibt viele Argumente, die beweisen sollen, dass Russland nie jemanden kolonisiert hat – und fast alle davon scheinen mir heute ziemlich lächerlich. Russische Historiker behaupteten immer, dass Kolonien zwangsläufig in Übersee liegen müssen. Russland habe niemanden kolonisiert – sondern die umliegenden Gebiete nur erschlossen. Angeblich waren es die Nachbarvölker, die sich uns aus eigenem Antrieb anschließen wollten. (Ja, viele Russen glauben das tatsächlich immer noch.)

Die Russen sind der Meinung, dass unser Reich die indigenen Völker Sibiriens erzogen, die Kultur nach Zentralasien gebracht und die kaukasischen Völker vor der Türkei und Iran geschützt hat.

Die Russen glauben auch, dass wir immer allen geholfen und alle gerettet hätten. Diese Überzeugung kommt aus einer Mischung zwischen russischem Messianismus und einer Selbstverleugnung im Stil von Dostojewski und Kiplings klassisch kolonialem Manifest »White Man’s Burden«. Die Russen sind der Meinung, dass unser Reich den indigenen Völkern Sibiriens und Zentralasiens Bildung und Kultur gebracht sowie die kaukasischen Völker vor der Türkei und Iran geschützt habe.

Dass die russische Eroberung Sibiriens beispielsweise zur gleichen Zeit stattfand wie die britische Eroberung Nordamerikas und dass die dort eingesessenen Samojeden , Burjaten und Jakuten auf die gleiche Weise vernichtet wurden wie Irokesen und Mohikaner – all das ist der russischen Öffentlichkeit unbekannt. Sibirien gilt selbstverständlich als russisches Urland. Aber Amerika wurde den dortigen Ureinwohnern weggenommen, das wissen alle.

Am verworrensten ist die Beziehung Russlands zur Ukraine. Einerseits ist Kiew »die Mutter der russischen Städte«, bis zum 13. Jahrhundert gelten Kiews Fürsten als Russen. Für die Zeit danach verlagert sich das Augenmerk der Historiker und Philister auf Moskau.

Ein Vertrag aus dem 17. Jahrhundert als Begründung für heutige Kriege

Für die darauffolgenden Jahrhunderte interessiert sich kaum jemand. Doch dann, im 17. Jahrhundert, unterzeichnete der ukrainische Hetman Bogdan Chmelnizki einen Vertrag mit Zar Alexej Romanow, der vorsah, dass Moskau die ukrainischen Gebiete gegen Polen verteidigen würde. Keine der beiden Seiten hat sich je an diesen Vertrag gehalten.

Dennoch ist dies der Moment, der als »Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland« bezeichnet wird. Und mit diesem Vertrag werden alle nachfolgenden Eroberungskriege gegen die Ukraine begründet. Die Logik lautet: Erstens sind wir ein Volk. Und zweitens haben die Ukrainer im 17. Jahrhundert ein Papier unterzeichnet.

Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, wie sie von russischen Forschern erzählt wird, ist eine einzige Heldentat: Die Russen vergießen ständig ihr Blut für irgendjemanden. Sie befreien Europa von Napoleon, retten die christlichen Völker auf dem Balkan vor dem Osmanischen Reich und opfern sich ständig auf. Die Tatsache, dass sie zur gleichen Zeit Polen eroberten, wird in zeitgenössischen Lehrbüchern nicht besonders hervorgehoben.

Das 20. Jahrhundert sieht aus russischer Sicht genauso aus: Die Russen haben im Zweiten Weltkrieg die ganze Welt gerettet. Die Osteuropäer sind undankbar, weil sie der Meinung sind, dass sie besetzt wurden. In der UdSSR waren alle glücklich, niemand wurde unterdrückt. Im Gegenteil, alle Sowjetrepubliken profitierten damals von Russland. Deshalb sollte Russland sie in ihrem eigenen Interesse zurückholen.

Ich habe diese Mythen absichtlich so primitiv wie möglich skizziert. Aber viele Menschen glauben an sie, weil sie ihnen jahrzehntelang, jahrhundertelang so beigebracht wurden.

Viele andere betrachten die Welt auf eine komplexere Weise. Sie wollen nicht, dass die Sowjetunion wieder aufgebaut wird. Sie akzeptieren den Zusammenbruch des Imperiums als Tatsache. Und dennoch sind sie der Meinung, dass Moskau die natürliche kulturelle Hauptstadt der russischsprachigen Welt sei. Die umliegenden Länder sehen sie als Provinzen.

Sie weigern sich kategorisch zu verstehen, was daran verkehrt ist. Warum diese Haltung unsere Nachbarn seit vielen Jahren beleidigt.

Sibirische Ureinwohner im Jahr 1910. Viele Russen wissen wenig über die Eroberung dieser Gebiete

Sibirische Ureinwohner im Jahr 1910. Viele Russen wissen wenig über die Eroberung dieser Gebiete

Foto: Michael Maslan / Corbis / VCG /Getty Images

Ein wichtiger Streit zwischen Russen und Ukrainern dreht sich zum Beispiel seit Jahrzehnten um die Frage, ob man »auf die Ukraine« fährt oder »in die Ukraine«. Die Russen argumentierten, dass man nach den Regeln der russischen Sprache »auf die Ukraine« sagen müsse. Die Ukrainer antworteten, das klinge respektlos, und es sei besser, »in die Ukraine« zu sagen – denn diese Präposition wird im Russischen gewöhnlich für den Namen unabhängiger Staaten verwendet. Aber sturen Russen ging es ums Prinzip: Die russische Sprache sei »groß und mächtig«, sie ändere sich nicht wegen irgendwelcher politischer Launen. Sie fahren weiter aus Trotz »auf die Ukraine«.

Ähnliche Probleme begannen mit anderen Völkern. Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion sprachen die Russen weiterhin von »Weißrussland«, »Kirgisien« und »Moldawien«. Die Einwohner dieser ehemaligen Sowjetrepubliken dagegen begannen, auf ihren eigenen Namen zu bestehen: »Belarus«, »Kirgisistan« und »Moldau«. Es ist wichtig zu erwähnen, dass auch diese anderen Völker Russisch sprachen: Sie baten nur darum, ihre nationalen Gefühle zu respektieren. Die Standardantwort der Russen lautete etwa so: Die russische Sprache »gehört uns«, wir sind ihre rechtmäßigen Hüter, also reden wir so, wie wir es für richtig halten.

Vor einigen Jahren habe ich einen Text geschrieben, in dem ich versuchte, meine Landsleute umzustimmen. Ich bat darum, die Gefühle derjenigen zu bedenken, die sich benachteiligt und beleidigt fühlen. Wenn die russischsprachigen Bürger von Belarus sich »Belarussen« nennen wollen, ist das ihr gutes Recht. Genauso wie jeder Mensch das Recht hat, seinen eigenen Namen zu wählen. Josef Dschugaschwili wollte, dass man ihn Stalin nennt – und bitteschön, alle taten es. Als ich damals diesen Text schrieb, gab es eine heftige Debatte. Viele meiner Kollegen, liberale Journalisten, meinten, ich hätte den Verstand verloren.

Nun scheint der Krieg die Frage gelöst zu haben. Den Ukrainern ist es inzwischen egal, wie die Russen sie nennen, denn die nächste Generation der Ukrainer wird kein Russisch mehr sprechen. Ich weiß nicht, was mit den Menschen in Belarus, Moldau und Kirgisistan sein wird. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch sie sich eines Tages entsetzt von der Sprache abwenden, die ihnen einst wie ihre Muttersprache schien.

Menschen im heutigen Tschechien demonstrierten 1968 gegen die Sowjetherrschaft

Menschen im heutigen Tschechien demonstrierten 1968 gegen die Sowjetherrschaft

Foto: IMAGO

Viele Ukrainer stellten erst während des Krieges fest, dass es ihnen jahrelang peinlich gewesen war, ihre Muttersprache zu sprechen. Sie war vielen »unmodern« und »provinziell« erschienen – im Gegensatz zum angeblich modischen und aussichtsreichen Russisch. Mit dem Ausbruch des Krieges begannen sie sich plötzlich zu fragen, woran das lag.

Millionen von Ukrainern haben seit Ausbruch des Krieges begonnen, Ukrainisch zu lernen. Ukrainische Journalisten schreiben und sprechen zum ersten Mal auf Ukrainisch und nicht auf Russisch; Sänger singen erstmals in ihrer eigenen Sprache.

Vergangene Woche machte ein Foto eines Puschkin-Denkmals, das in Kiew abgerissen wurde, im Internet die Runde. Diese Büste wurde 1899 aufgestellt. Jetzt wurde sie als Symbol des russischen Kolonialismus entfernt.

Ein entsetztes Raunen ging durch die russische Intelligenzija. Vielen scheint es ungerecht, dass sich Beleidigung und Aggression gegen den großen russischen Dichter richteten. Puschkin ist kein eindeutiger Fall. Er war in seiner Jugend ein scharfer Kritiker des Imperiums und verbrachte mehrere Jahre im Exil. Doch dann wurde er begnadigt und konnte sogar nach Sankt Petersburg zurückkehren. Im Gegenzug begann er, Gedichte zu schreiben, in denen er sich loyaler zum Staat äußerte.

So schuf er etwa das Gedicht »Poltawa«, in dem er Iwan Masepa, einen Helden des ukrainischen Volkes, als Schurken und Verräter darstellt. Er schrieb auch das Gedicht »An die Verleumder Russlands«, das heute von russischen Propagandisten benutzt wird. Darin rügt Puschkin den Westen und fordert ihn auf, sich nicht in »den Streit der Slawen« einzumischen und Russland nicht zu drohen. Man muss dazusagen, dass Puschkin nicht lange Propagandadichter war. Er fiel bald in Ungnade bei den Behörden und begann wieder, antiimperiale Gedichte und Verse zu schreiben. In den Augen der heutigen Ukrainer spricht ihn das jedoch nicht frei.

Der größte Vorwurf der Ukrainer an Puschkin ist, dass er viele Jahre lang ein Werkzeug war. Er wird seit Jahrhunderten benutzt, um zu behaupten, die russische Literatur und Kultur sei der ukrainischen überlegen. So bedauerlich das ist – er war ein Instrument der Unterdrückung.

Die russische Gesellschaft hat noch einen weiten Weg vor sich. Sie muss aufhören, sich »das große russische Volk« und ihre Kultur »die große russische Kultur« zu nennen, und sei es nur aus Respekt vor anderen Völkern, deren Freiheit diese Kultur jahrelang einschränkte.

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Die Analogie zwischen familiären Beziehungen und den Beziehungen zwischen Nationen wird oft überstrapaziert – aber an dieser Stelle scheint sie mir angemessen. Der Täter kann sich in der Regel nicht eingestehen, dass er gewalttätig ist, nur das Opfer erkennt das. Der häusliche Tyrann hält sich in der Regel für einen fürsorglichen Familienvater, selbst wenn man ihm die Wahrheit ins Gesicht sagt.

Die russische Gesellschaft, selbst der Teil, der Putin hasst und den Krieg verurteilt, wird noch lange lernen müssen, zuzuhören und zu verstehen. Nicht weil es im Interesse der Ukrainer, Belarussen oder der anderen Völker der benachbarten unabhängigen Länder ist. Es ist im Interesse der Russen. Jener Russen, die bisher die schreckliche Wahrheit über die Geschichte ihres Landes und seiner Kultur leugnen.

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