
Wie Syrer den Krieg in der Ukraine erleben »Ich schließe die Augen, aber die Bilder gehen nicht weg«


In Syrien getesteter Militärapparat: Zerbombtes Haus in Kiew
Foto:Emilio Morenatti / AP / dpa
Ich habe diese Augen schon einmal gesehen, mit der Schwärze in den Gesichtshöhlen, dem grauen Staub auf den Wangen. In der Ferne sieht man die Silhouetten zerstörter Gebäude und eine Straße, auf der Menschen vor dem drohenden Tod geflohen sind. Das Bild verschwimmt mit anderen Bildern, in jedem ein ähnliches Gesicht, ein ähnlicher Hintergrund, in jedem Datum und Ort, Vergangenheit und Gegenwart, Namen von Ländern, die ähnliche Kriege gesehen haben. Ich schließe die Augen, aber die Bilder gehen nicht weg.
Seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine führe ich einen Krieg mit meiner Erinnerung. Es fühlt sich an, als wäre mein Körper in diese Einzelzelle in der Zweigstelle des militärischen Luftgeheimdienstes in Damaskus zurückgekehrt, wo ich einst inhaftiert war, einzig und allein wegen meiner journalistischen Arbeit.
Am 24. Februar 2022 wachten die Menschen in der Ukraine mit Sirenengeheul auf. Mit dem russischen Angriff begann die größte Sicherheitskrise in Europa seit dem Kalten Krieg. Und für uns, die Kinder der bereits vom Krieg betroffenen Länder, sind die dunklen Erinnerungen zurück. Es fühlt sich weniger wie ein Erwachen an, vielmehr, als wären wir mitten in einem Albtraum.
Häuser ohne Türen
Eine aktuelle Aufnahme aus der Ukraine versetzt mich Jahre zurück: Ein Mann starrt ein zerbombtes Haus an, seine Augen wandern von einem Stockwerk zum anderen. Es gibt keine Fenster, keine Türen, keine Farbe. Hier hat er gewohnt, hier hat er morgens auf dem Balkon seine Tasse Kaffee getrunken, bevor russische Flugzeuge das Gebäude bombardierten. Er nickt dem Haus zu und entfernt sich von allem, was er hatte.

Zerbombte Häuser in Aleppo, Aufnahme von 2016
Foto: Karam al-Masri / AFPIn der syrischen Stadt Aleppo sah ich im Jahr 2015 viele solcher Häuser ohne Türen und Fenster, nachdem das syrische Regime und seine russischen und iranischen Verbündeten die Stadt bombardiert hatten. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Badezimmer, Wasser- und Strominstallationen, Kleidung, Kinderspielzeug, Bücher, Papiere: Alles, was die Menschen zurücklassen mussten, war von außen einsehbar.
Die russische Luftwaffe hatte im September 2015 mit Luftangriffen auf syrisches Territorium begonnen, nachdem Präsident Baschar al-Assad Moskau um militärische Unterstützung gebeten hatte. Diese Intervention tötete Tausende Zivilisten. Mit der Invasion in der Ukraine ist klar geworden, dass Putin das ehemalige sowjetische Einflussgebiet wiederherstellen will. Offenbar gehörten bereits die Interventionen in Syrien und im Nahen Osten zu diesem Plan.
Geflüchtete sind nicht Geflüchtete
An uns in Syrien hat Putin seinen Militärapparat getestet, jetzt steht er damit vor Europas Haustür. Die Ukraine ist nicht Syrien. Aber in beiden Fällen sind die Opfer Menschen, die Krieg und Gewalt nicht gewählt haben, die ihr Zuhause und alles, was sie besaßen, verloren haben und gezwungen wurden, in anderen Ländern Zuflucht zu suchen, um Tod und Missbrauch zu entgehen.
Über 160.000 vertriebenen Ukrainer wurden in den vergangenen Tagen von den polnischen Grenzschutzbeamten willkommen geheißen. Viele mit Hilfsgütern beladene zivile Konvois bereiten sich darauf vor, zur ukrainischen Grenze zu fahren, um Flüchtlingen zu helfen, die in europäischen Nachbarländern ankommen.
Fast am selben Ort, das heißt am selben Grenzstreifen, strandeten unlängst Tausende von arabischen, afrikanischen und asiatischen Geflüchteten. Sie hieß niemand willkommen. Unter schmutzigen Wolldecken sieht man aneinandergedrängte Körper, umgeben von verstreuten Taschen und Säcken. Aus der Vogelperspektive sind es verstreute Häufchen von Menschen auf einem weiten Gebiet zwischen der polnischen und der belarussischen Grenze, die versuchen, in dieser bitteren Kälte etwas Wärme zu bekommen.
Sie haben nur das, was sie tragen konnten, und ein paar Lebensmittel, die ihnen von humanitären Gruppen und Organisationen geliefert wurden. Sie stammen aus Kriegsländern und haben die Pfade des Todes gekreuzt.
An der Menschlichkeit festhalten – für alle
Doch sie werden an der Einreise gehindert oder daran, Polen zu durchqueren, um etwa nach Deutschland zu gelangen. Diese Flüchtlinge sahen sich mit Schlägen und Demütigungen durch die Grenzschutzbeamten konfrontiert, inmitten eines untätigen Europas, das in ihrer Aufnahme offenbar eine Gefahr sah. Menschen, die in derselben eisigen Kälte frieren, werden anders behandelt, weil sie eine andere Herkunft und Hautfarbe haben.
Das ist doppelzüngig und rassistisch. Es ist unerträglich, wenn Journalisten argumentieren, dass die Ukrainer ihnen ähnlich seien, »zivilisiert«, anders als die Menschen, die aus dem fernen Syrien fliehen oder dem Irak.

»Nur wir Geflüchteten wissen, was Flucht vor dem Tod bedeutet«
Foto: Omar Marques / Getty ImagesWir Geflüchteten wissen, was Flucht vor dem Tod bedeutet; nur wir kennen die Bedeutung von Asyl, von Verlust, von Diaspora. Es braucht in dieser schwierigen Zeit unbedingte Solidarität mit allen Geflüchteten, wir müssen an unserer Menschlichkeit festhalten, wir müssen uns unermüdlich für die Rettung von allen Menschen einsetzen.
In Berlin, einer Stadt der Vielfalt, sieht man jetzt Straßen voller Alteingesessener, Flüchtlinge und Einwanderer unterschiedlicher Nationalitäten, die in Solidarität mit dem ukrainischen Volk solidarisch gegen Putins Besetzung demonstrieren. Sie stehen in diesem Moment zusammen gegen den Krieg, vergessen ihre unterschiedliche Herkunft.
Der Frieden bleibt für uns fern
Und ich, der palästinensisch-syrische Flüchtling, der vor sieben Jahren von dieser Stadt aufgenommen wurde, ich sitze in meinem warmen Haus und verfolge, was in der Ukraine und im Nahen Osten passiert. Aktuelle Bilder vermischen sich dabei mit Bildern aus meiner früheren Heimat: zerstörte Städte, gezeichnete Gesichter, ein Gegner, der seine Militärmaschine zur Schau stellt, Geflüchtete, die an den Grenzen eingefroren sind, Leichen und Körperteile, die auf der Straße verstreut liegen.
Es scheint, als sei es nicht möglich, sich von den Folgen des Krieges zu erholen. Wo immer man Zuflucht sucht, lauert bereits der nächste.