Prozess gegen Julian Assange Mögliche Höchststrafe: 175 Jahre Knast

Nach monatelanger Verzögerung wegen der Coronakrise ist der Prozess gegen den WikiLeaks-Gründer fortgesetzt worden. In London sitzt mit ihm auf der Anklagebank: der investigative Journalismus.
Von Jörg Schindler, London
Hat eine ungewisse Zukunft: WikiLeaks-Gründer Julian Assange

Hat eine ungewisse Zukunft: WikiLeaks-Gründer Julian Assange

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Elizabeth Cook / PA Media / dpa

Der Prozess gegen Amerikas Staatsfeind ist bereits eine Viertelstunde überfällig, als ein Gerichtsmitarbeiter in Londons Zentralem Strafgerichtshof zum Telefon greift: "Wäre es möglich, Herrn Assange  hierherzubringen?" Es ist 10.15 Uhr an diesem Montagmorgen, und die wenigen Menschen, die es trotz Corona und trotz scharfer Sicherheitsvorkehrungen in den ehrenwerten Justizpalast Old Bailey geschafft haben, sind schon jetzt erkennbar unruhig.

Draußen haben sich Dutzende Demonstranten versammelt mit Transparenten wie "Journalismus ist kein Verbrechen". Drinnen, in einem holzgetäfelten Saal ohne natürliches Licht, ist es unerträglich heiß. Man will den Tag offenbar gern schnell hinter sich bringen.

Zehn Minuten später wird dann tatsächlich Julian Assange hereingeführt. Er trägt eine rote Krawatte zum blauen Anzug, hat die weißen Haare an den Seiten kurz geschoren, bestätigt knapp, dass er wirklich Julian Assange ist, dann nimmt er Platz auf seiner Anklagebank hinter Glas.

US-Justiz will ihn wegen Spionage und Verschwörung verurteilen

Der 49-Jährige wird dort, wenn nichts dazwischenkommt, in den kommenden vier Wochen täglich sitzen. Danach wird ein Stück klarer sein, ob sich der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks Hoffnung machen darf, je wieder ein freier Mann zu sein. Oder ob er nach jahrelanger Flucht letztlich doch an die US-Justiz ausgeliefert wird, die ihn wegen Spionage und Verschwörung verurteilen will - mögliche Höchststrafe: 175 Jahre Gefängnis.

Das Londoner Auslieferungsverfahren war im Frühjahr wegen der Corona-Pandemie unterbrochen worden. Assange sitzt deshalb bereits seit mehr als 16 Monaten im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, wo sich sein Gesundheitszustand verschlechtert haben soll. Die britische Polizei hatte ihn am 11. April 2019 in den Räumen der ecuadorianischen Botschaft verhaftet. Dorthin war Assange fast sieben Jahre zuvor geflüchtet, um sich der möglichen Auslieferung in die USA zu entziehen.

Das US-Justizministerium will den gebürtigen Australier nach dem mehr als 100 Jahre alten Spionagegesetz anklagen. Er soll dafür bestraft werden, dass WikiLeaks in den Jahren 2010 und 2011 – mithilfe von Medienpartnern wie dem "Guardian", der "New York Times" und dem SPIEGEL – Hunderttausende geheime Staatsdokumente veröffentlichte, die unter anderem schwere Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak und in Afghanistan belegen.

Assange "und andere" sollen Hacker rekrutiert haben

Erstmals wollen die Ankläger dabei die bloße Entgegennahme und Veröffentlichung von vertraulichen Dokumenten der "Nationalen Verteidigung" ahnden. Mehrere der 18 Anklagepunkte gegen Assange zielen darauf ab. Assange, heißt es in der Anklageschrift, habe den ehemaligen US-Soldaten und Whistleblower Bradley (heute Chelsea) Manning "unterstützt, beraten, ermuntert und angeleitet", hoch geheime passwortgeschützte Daten zu entwenden.

Während des weltweiten Corona-Lockdowns erweiterten die Amerikaner im Juni die Anklage. In dem neuen Schriftsatz wird Assange "und anderen" nun zusätzlich vorgeworfen, sie hätten Hacker rekrutiert, um Staatsgeheimnisse zu stehlen. Auch habe sich der WikiLeaks-Chef mit Hackergruppen wie LulzSec und Anonymous "verschworen". Darüber hinaus werfen die Amerikaner Assange nun noch vor, unter anderem Bankdaten entwendet und einem Whistleblower aus Hongkong "behilflich" gewesen zu sein.

Würde ein US-Gericht Assange tatsächlich in allen Anklagepunkten schuldig sprechen, hätte das womöglich dramatische Konsequenzen für Investigativjournalisten in den USA und anderswo. Zahllose Redaktionen, auch der SPIEGEL, veröffentlichen regelmäßig vertrauliche Dokumente, sofern sie von öffentlichem Interesse sind, und verbreiten sie damit an "unbefugte" Leser.

Nach einem Schuldspruch gegen Assange müssten auch diese Medien gegebenfalls damit rechnen, jederzeit verfolgt, angeklagt und letztlich mundtot gemacht zu werden. Assanges Nachfolger Kristinn Hrafnsson sprach im SPIEGEL-Interview von einem "Krieg gegen den Journalismus"

US-Justiz bestreitet, dass Assange Journalist ist

"Reporter ohne Grenzen" warnt vor einem "gefährlichen Präzedenzfall für Journalisten, Whistleblower und andere journalistische Quellen". Die Organisation fuhr am Montag, fast zeitgleich mit der Prozessfortsetzung gegen Assange, vor 10 Downing Street vor, um der britischen Regierung eine Petition mit 80.000 Unterschriften für die Freilassung Assanges zu überreichen.

Die US-Ankläger dagegen bestreiten, dass es sich bei Assange um einen Journalisten im eigentlichen Sinne handele, auch wenn dieser sich Chefredakteur von WikiLeaks nenne und im Lauf der Jahre etliche hochrangige Medienpreise erhalten habe. Der Australier sei eben nicht "passiv" in den Besitz hochsensibler Militärpapiere gelangt, behauptete einer der Ankläger schon vor Monaten: "Um es klar zu sagen, Assange wird nicht einfach beschuldigt, weil er Publizist ist."

Screenshot des von WikiLeaks 2010 veröffentlichten "Collateral Murder"-Videos, das einen US-Helikopterangriff auf Zivilisten in Bagdad zeigt

Screenshot des von WikiLeaks 2010 veröffentlichten "Collateral Murder"-Videos, das einen US-Helikopterangriff auf Zivilisten in Bagdad zeigt

Foto: Anonymous/ AP

Die Strategie der Verteidigung wird es sein, das Gegenteil zu beweisen. Auch deshalb lieferten sich zu Beginn der Anhörung beide Seiten ein erstes bizarres Scharmützel um die Frage, ob es sich bei dem von der Verteidigung als Zeugen berufenen Investigativjournalisten Mark Feldstein tatsächlich um einen "Experten" handele.

Erst der juristische Showdown, dann der politische?

In den kommenden Wochen wird Assanges Seite zudem bemüht sein nachzuweisen, dass ihrem Mandanten in den USA ein politischer Prozess gemacht werden soll. Viele Merkwürdigkeiten in der jahrelangen Verfolgungsjagd gegen den WikiLeaks-Gründer deuten zumindest darauf hin. Schlösse sich das Londoner Gericht dieser Sichtweise an, dürfte Assange nach geltender britischer Rechtslage eigentlich nicht ausgeliefert werden.

Dass der juristische Showdown in London mit einem politischen Showdown in den USA zusammenfällt, wird Assange indes wohl eher nichts nutzen. Zwar hat Donald Trump, der Medien gern "Feinde des Volkes" nennt, bei früherer Gelegenheit Assanges Hinrichtung verlangt. Aber auch Joe Biden, in dessen Zeit als Vizepräsident die wichtigsten WikiLeaks-Enthüllungen fallen, steht dem in kaum etwas nach. Für Biden ist Assange schlicht ein "Hi-Tech-Terrorist".    

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