
Gewinnerbild von Lee-Ann Olwage, entstanden in einem sogenannten Hexencamp in Ghana
Foto:Lee-Ann Olwage / DER SPIEGEL
In eigener Sache SPIEGEL-Bild gewinnt World Press Photo Award

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Mehr als 3700 Fotografinnen und Fotografen weltweit hatten sich mit mehr als 60.000 Bildern beworben – nun stehen die Gewinner des renommierten World Press Photo Award 2023 fest, wie die Jury am Mittwoch in Amsterdam mitteilte. Eine der Gewinnerinnen ist die Fotografin Lee-Ann Olwage aus Südafrika.
Olwage interessiert sich in ihren Langzeitprojekten vor allem für die Themen Identität und Gender. Sie hat bereits 2020 einen World Press Photo Award gewonnen. Für die Geschichte, deren Bild nun ausgezeichnet wurde, war sie mehrmals auf Reisen, auch für und mit dem SPIEGEL – so wie im vergangenen Jahr in einem sogenannten Hexencamp in Ghana.
Dort, in dem Aufenthaltsraum, ist das nun ausgezeichnete Bild entstanden. Er ist der wichtigste Treffpunkt der Bewohnerinnen und Bewohner. Hier versammeln sie sich morgens zum Gebet, hier tanzen und plaudern sie – oder starren einfach nur ins Leere. Das Bild fängt die vielen Dimensionen dieses Ortes ein: Verloren-Sein, Entfremdung fernab des Heimatdorfes und gleichzeitig Halt durch ein geteiltes Schicksal.
In dem Camp im Norden Ghanas finden Frauen Zuflucht, die in ihren Heimatorten der Hexerei beschuldigt wurden. Viele dieser Frauen zeigen Symptome von Alzheimer und Demenz, sind verwirrt, schimpfen laut oder reden einfach vor sich hin. Diese Krankheitszeichen werden auf dem Land oft als Zeichen von Hexerei gelesen und die Beschuldigten schließlich aus ihren Dörfern vertrieben. Das Hexencamp in Gambaga ist ein Ort der Zuflucht für die Betroffenen, bietet Sicherheit, aber steht wegen mutmaßlicher Ausbeutung der Bewohnerinnen durch den traditionellen Chief auch in der Kritik.

Die Andacht gibt dem Leben der Bewohnerinnen Struktur und Routine
Foto: Lee-Ann Olwage / DER SPIEGELDie SPIEGEL-Fotoredaktion ist auf Lee-Ann Olwages Werk zum Umgang mit Demenz in afrikanischen Ländern aufmerksam geworden und hat gemeinsam mit der Auslandsredaktion beschlossen, eines der sogenannten Hexencamps noch einmal zu besuchen. Korrespondent Heiner Hoffmann hat sofort die Verbindung der Fotografin mit diesem außergewöhnlichen Schauplatz gespürt: »Sie kannte von vorherigen Reisen bereits viele der Protagonistinnen, hat Ausdrucke von früher entstandenen Porträtfotos mitgebracht und den Frauen geschenkt. Die waren begeistert, das Eis war sofort gebrochen. Mit den Bildern hat sie vielen Bewohnerinnen ein Stück Würde wiedergegeben, gezeigt, wie einzigartig sie sind, wie viel Schönheit in ihnen steckt«, erzählt er. »Und diese Botschaft war Lee-Ann wichtiger, als ein schnelles Foto einzufangen, und das hat mich sehr beeindruckt. Sie hat ein unglaubliches Gespür dafür, eine Beziehung zu den abgebildeten Personen aufzubauen, ihre Geschichten zu erspüren und diese Dimension sieht man den Bildern an.«

Die Bewohnerinnen des Hexencamps von Gambaga hängen fest – in ihre Heimatorte können sie in der Regel nicht zurück
Foto: Lee-Ann Olwage / DER SPIEGEL
Diese Frau hat Jahre im Hexencamp verbracht, bevor sie schließlich wieder zu ihrer Familie zurückkehren durfte
Foto: Lee-Ann Olwage / DER SPIEGELDrei Tage hat das SPIEGEL-Team in Gambaga, dem kleinen Örtchen im Norden Ghanas, verbracht. Es hat mit den angeblichen Hexen gesprochen, mit den Betreuern im Camp. »Aus westlicher Sicht ist es leicht, den traditionellen Glauben in Ghana als Aberglaube, als Humbug, abzutun. Lee-Ann hat das nie getan, sie hat nicht geurteilt, sondern versucht zu verstehen – in den Bildern und in den Gesprächen mit den Betroffenen«, sagt SPIEGEL-Korrespondent Heiner Hoffmann.
Es gab auch eine Erfolgsgeschichte: Nach langer Fahrt und kurzer Wanderung erreichte das Team eine Frau, die jahrelang im Hexencamp gewohnt hatte und schließlich zurückkehren durfte zu ihrer Familie. »Reintegration« nennen die Sozialarbeiter das. Lee-Ann Olwage hatte die frühere Bewohnerin schon einmal fotografiert, damals noch im Camp, sie zeigt deutliche Symptome von Demenz. Sie wirkte sehr erleichtert darüber, wieder in ihrer vertrauten, familiären Umgebung zu sein. Nach dem Interview bekam das SPIEGEL-Team ein riesiges Huhn geschenkt. »Lee-Ann hat das Tier während der sehr heißen Fahrt mit Wasser versorgt und anschließend weiterverschenkt«, erinnert sich Hoffmann.
Die Auswahl des World Press Photo Awards 2023 erfolgte wie bereits im vergangenen Jahr nach neuen Regeln, wonach die Preise für Regionen vergeben werden. So entschied die Jury zunächst über die besten Pressefotos aus sechs Weltregionen in jeweils vier Kategorien. Aus diesen regionalen Gewinnern werden die globalen Sieger bestimmt. Diese werden am 20. April bekannt gegeben.
Sehen Sie hier weitere ausgewählte Gewinnerbilder des World Press Photo Awards 2023:
AFRIKA
»The Doors Don't Know Me« von Mohamed Mahdy
Dieses webbasierte Projekt untersucht die Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels auf die lokale Gemeinschaft in Al Max, einem Fischerdorf am Mahmoudiyah-Kanal in Alexandria, Ägypten. Seit Generationen leben und arbeiten die Bewohner an dem Kanal, der zum Mittelmeer führt:

ASIEN
»Der Preis des Friedens in Afghanistan« von Mads Nissen

Khalil Mohammed, 15 Jahre, wurde die linke Niere entfernt. Sie wurde verkauft. Von dem Geld konnte die Familie ihre Schulden zurückzahlen. Der dänische Fotograf Mads Nissen ist für mehrere Wochen nach Afghanistan gereist, um zu erfahren, wie es den Menschen im Land geht, seit die Taliban wieder an der Macht sind. Seine Erkenntnis: »Nichts deutet auf irgendeine realistische Verbesserung hin. Nirgends ist ein Strohhalm, sich festzuklammern. Da ist kein Licht am Ende des Tunnels«, sagte Nissen gegenüber dem SPIEGEL. Die Menschen haben kein Essen, kein Geld, keine Medikamente, keine Arbeit – und verkaufen deshalb sogar die Organe ihrer Kinder, um zu überleben, oder betteln vor einer Bäckerei im Zentrum Kabuls um Essen:

»Woman, Life, Freedom« von Hossein Fatemi
In seinem fotobasierten Videoprojekt erzählt Fatemi von einer chaotischen Nacht im Leben einer iranischen Krankenschwester, die einem jungen Demonstranten namens Reza das Leben rettet. Das Filmmaterial bietet einen seltenen Einblick in die Gefahren, denen Demonstranten und Demonstrantinnen auf den Straßen Irans ausgesetzt sind. Nachdem die 22-jährige Kurdin Jina Mahsa Amini im September 2022 nach ihrer Festnahme durch die »Sittenpolizei« gestorben war, gingen die Proteste los und griffen bald aufs ganze Land über.

Die Islamische Republik reagierte mit der Unterbrechung des Internetzugangs und der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste. Da die Krankenhäuser vom Regime kontrolliert werden, drohen jedem, der sich bei den Protesten verletzt, Verhaftung und weitere Misshandlungen, wenn er oder sie medizinische Hilfe sucht.

»Unruhige Gewässer« von Anush Babajanyan
Kirgisistan: Das Boot von Sonunbek Kadyrov dient den Bewohnern des Dorfes Kyzyl-Beyit als Taxi. Der Zugang zur Hauptstraße ihres Dorfes wurde vor mehr als 20 Jahren durch den Bau eines Staudamms versperrt, indem eine ineffiziente Wasserbewirtschaftung die Bewegungsfreiheit der Menschen stark beeinträchtigte.

Kasachstan: Auf dem ehemaligen Bett des Aralsees, in der Nähe des Dorfes Akespe, ist eine heiße Quelle entstanden, die oft zu Heilzwecken aufgesucht wird. Im Laufe der Jahre hat der Aralsee 90 Prozent seines Wassers verloren. Der ehemals viertgrößte See der Welt, den sich Usbekistan und Kasachstan teilen, begann bereits in den 1960er-Jahren zurückzugehen, als das sowjetische Projekt der Umleitung der Flüsse Syr Darya und Amu Darya für die Baumwollindustrie begann.

EUROPA
»Yana and Victor« von Alkis Konstantinidis, Reuters
Yana Bachek weint – getröstet von ihrem Partner und ihrer Mutter – um ihren Vater Victor Gubarev (79), der am 18. April 2022 beim Brotkauf in Charkiw, Ukraine, durch russischen Beschuss getötet wurde. Die Jury war der Ansicht, dass dieses Bild die Trauer und das Grauen widerspiegelt, die die ukrainische Zivilbevölkerung seit dem Einmarsch der Russen täglich erleidet.

»Die Belagerung von Mariupol« von Evgeniy Maloletka
Der Ukrainer Evgeniy Maloletka war von Kriegsbeginn bis Mitte März 2022 in Mariupol und dokumentierte das Leid in der Stadt. Die Bilder, die Maloletka dort schoss, gingen um die Welt. Sie dokumentieren, wie russische Artillerie am 9. März ein Geburtskrankenhaus bombardierte, Dutzende schwangere Frauen flohen aus dem Gebäude. Russland behauptete später, der Angriff sei inszeniert gewesen, eine gerettete Schwangere eine Schauspielerin. Doch die Fotografen können bezeugen, dass der Angriff echt war.
Ein Bild zeigte die Grausamkeit des Angriffs besonders drastisch: Eine Schwangere wird von Helfern auf einer Liege durch die Trümmer getragen, hält sich ihren blutverschmierten Bauch. Die Frau sei nach dem Angriff eilig in ein Krankenhaus am Stadtrand von Mariupol gebracht worden, teilte ein Arzt später mit, doch weder sie noch das ungeborene Kind hätten den Angriff überlebt.

»Kriegswunden« von Emilio Morenatti
Auch diese Arbeit aus der Ukraine hat die Jury überzeugt, sie wird in der Kategorie »Lobende Erwähnung« gelistet.
Nastia Kuzik, 21, während einer Behandlung in einem öffentlichen Krankenhaus in Kiew am 4. Mai 2022. Am 17. März besuchte die junge Frau ihren Bruder in dessen Haus in Tschernihiw und geriet auf dem Rückweg in einen Bombenangriff. Sie verlor ihr rechtes Bein unterhalb des Knies und verletzte ihr linkes Bein schwer.

Sie wurde später zur weiteren Behandlung nach Deutschland gebracht, hier verabschiedet sie sich vor dem Transport von ihrem Vater. Fotograf Morenatti hat selbst ein Bein während seiner Arbeit im Krieg verloren, als er in Afghanistan in eine Sprengfalle geriet.

»Net-Zero Transition« von Simone Tramonte
Auch Europa, ein ganz anderes Thema: erneuerbare Energien.
Menschen schwimmen am 13. Juli 2021 in Amager Strand, Dänemark, in der Nähe eines Windparks, der mehr als 40.000 Kopenhagener Haushalte versorgt. Die Europäische Union hat sich vorgenommen, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken und bis 2050 auf null zu reduzieren. Der Fotograf Simone Tramonte dokumentiert innovative Technologien, die mögliche Wege zu diesen Zielen aufzeigen.

Diese Sammelkammer einer Müllverbrennungsanlage in Turin, Italien, versorgt das größte Fernwärmenetz Italiens und damit mehr als 500.000 Bürger:

NORD- UND ZENTRALAMERIKA
»Der sterbende Fluss« von Jonas Kakó
Afredo Fierro (links) und seine Mitarbeiter Ubaldo und José, während der Pflege von Bienen in der Wüste von Arizona. Seit mehreren Jahren müssen die Männer Wasser für die Bienen in Tränken bereitstellen, da die Völker sonst nicht überleben können, da es immer weniger Regenfall gibt.

»Beautiful Poison« von Cristopher Rogel Blanquet
Die sechzehnjährige Carmelita liegt in ihrem Bett in Villa Guerrero, Mexiko. Bei der Geburt wurde bei ihr eine Enzephalomalazie diagnostiziert. Da sie deshalb auch an einer Lichtempfindlichkeit leidet, verlässt sie ihr Zimmer nie. In diesem Langzeitprojekt dokumentiert der Fotograf auffällige Gesundheitsprobleme im Kontext des uneingeschränkten Einsatzes von Agrochemikalien in der Blumenindustrie der Region. Trotz medizinischer Studien, die Pestizid- und Düngemittelbestandteile mit dem Wiederauftreten von angeborenen Missbildungen, Leukämie, Lymphomen, degenerativer Blindheit, Totgeburten, Unfruchtbarkeit und Krebs in Verbindung bringen, hätten die örtlichen Behörden und Institutionen die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung im mexikanischen Blumengürtel bislang nicht ausreichend beachtet.


SÜDAMERIKA
»Alpaqueros« von Alessandro Cinque
Alina Surquislla Gomez ist Alpakazüchterin in dritter Generation. Hier wiegt sie in Oropesa, Peru, ein Babyalpaka auf dem Weg zu den Sommerweiden ihrer Familie. Alpakas, die für viele Menschen in den peruanischen Anden lebenswichtig sind, stehen aufgrund der Klimakrise vor neuen Herausforderungen. Da die natürlichen Weideflächen schrumpfen und die Gletscher zurückgehen, haben die Tiere zunehmend Probleme, zu grasen und zu trinken.

Wissenschaftler wollen das Problem lösen, in dem sie Rassen züchten, die widerstandsfähiger gegen extreme Temperaturen sind. Hier setzt Felimon Paxi Menezes im Forschungs- und Produktionszentrum von Quimsachata eine Plastikvagina in eine Alpaka-Attrappe ein, die zur Samengewinnung dient.

ASIEN
»Home for the Golden Gays« von Hannah Reyes Morales
Al Enriquez, 86, blickt durch einen Vorhang im Haus der Golden Gays in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Die Golden Gays sind eine Gemeinschaft älterer LGBTQ-Menschen, die seit Jahrzehnten zusammenleben und sich gegenseitig unterstützen.


In einem Land, in dem sie mit Diskriminierung, Vorurteilen und Herausforderungen konfrontiert sind, die durch ihr Alter und ihre sozioökonomische Schicht noch verstärkt werden, hat sich die Gruppe zusammengetan und ein Zuhause geschaffen, in dem sie sich Betreuungsaufgaben teilen und Shows und Wettbewerbe veranstalten, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Jury lobte diese Geschichte für die Darstellung der Wärme, Freude und Würde der Gemeinschaft.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.