Xinjiang Police Files Baerbock fordert Aufklärung von China

»Jeder, der diese Bilder sieht, dem läuft es eiskalt den Rücken herunter«: China muss sich laut Außenministerin Baerbock nach den Enthüllungen zur Unterdrückung der Uiguren erklären. CDU-Außenexperte Röttgen sieht die Bundesregierung unter Zugzwang.
Außenministerin Baerbock: »Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang«

Außenministerin Baerbock: »Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang«

Foto: Janine Schmitz / photothek / IMAGO

Nach den Enthüllungen der Xinjiang Police Files durch den SPIEGEL und seine Recherchepartner sieht Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die chinesische Regierung in der Pflicht, die Vorwürfe wegen des staatlichen Unterdrückungsapparates gegen die Uiguren aufzuklären. In einer Videokonferenz mit ihrem chinesischen Kollegen Wang Yi sprach Baerbock laut einer Mitteilung ihres Ministeriums »auch die schockierenden Berichte und neuen Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang an«. Ein elementarer Bestandteil der internationalen Ordnung seien die Menschenrechte.

»Ich glaube, jeder, der diese Bilder sieht, dem läuft es eiskalt den Rücken herunter. Sie sind verstörend und erschreckend«, sagte Baerbock auf einer Pressekonferenz in Berlin. »Sie untermauern das, was ja seit Längerem bereits im Raum gestanden hat, dass in Xinjiang schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden.«

Über die Berichte könne man nicht schweigen oder hinweggehen. China müsse sich nun positionieren und erklären, warum es nach Meinung von Peking dort nicht zu Menschenrechtsverletzungen komme. Das habe sie im Gespräch »sehr, sehr deutlich gemacht«.

»Die Xinjiang Police Files dokumentieren eine neue Dimension der Brutalität gegenüber den Uiguren«

Norbert Röttgen

Ähnlich äußerte sich Baerbocks Kabinettskollege, Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). »Die Bilder aus China sind schockierend«, sagte er dem »Handelsblatt« über die Enthüllungen des SPIEGEL und weiterer Medienpartner. »Bei allen Gelegenheiten müssen wir chinesische Offizielle auf die Menschenrechtslage ansprechen.« »Samtpfötigkeit« aufgrund wirtschaftlicher Interessen dürfe es nicht geben. Die enorme Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom chinesischen Markt sei vor diesem Hintergrund besonders bedrückend. Es sei daher »auch ein Gebot der ökonomischen Klugheit, unsere wirtschaftlichen Beziehungen rasch zu differenzieren«.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr schrieb auf Twitter, der Bericht zu den Xinjiang Police Files sei erschütternd. »Die Unterdrückung der #Uiguren  ist grauenvoll und inakzeptabel. Wir brauchen jetzt eine einheitliche europäische und transatlantische Abstimmung im Umgang mit #China . Zur Menschenrechtslage darf nicht geschwiegen werden.«

Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen nahm die Ampelkoalition in die Pflicht. »Die Xinjiang Police Files dokumentieren eine neue Dimension der Brutalität gegenüber den Uiguren. Sie zeigen eindeutig, mit was für einem menschenverachtenden Regime wir es in China zu tun haben«, sagte Röttgen dem SPIEGEL. »Die Ampelparteien haben in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie Chinas Menschenrechtsverletzungen, besonders in Xinjiang, klar thematisieren werden. Ich erwarte, dass die Bundesregierung dies nun auch tut und klar kommuniziert, welche Konsequenzen Deutschland aus den neuen Erkenntnissen zieht.«

Röttgen sagte, die Gewalt, die China bisher vor allem nach innen richte, könnte die chinesische Parteiführung irgendwann auch nach außen anwenden, um eigene Interessen durchzusetzen. »Die deutsche Bundesregierung sollte die Xinjiang Police Files als Warnung begreifen und damit beginnen, die eigenen Abhängigkeiten von China zu reduzieren.« Zudem müsse sichergestellt werden, dass deutsche Unternehmen an Zwangsarbeit in Xinjiang weder beteiligt seien noch davon profitierten.

Kritik kam auch von Gregor Gysi von der Linken. »Selbstverständlich müssen die chinesischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren so schnell wie möglich eingestellt werden«, sagte er dem SPIEGEL – kritisierte aber auch den Westen. Sanktionen gegen China hätten diesbezüglich nichts erreicht. »Vielleicht sollte man über verdoppelt starke Diplomatie, über Angebote statt über Sanktionen kontrolliert wirklich etwas für die Uiguren erreichen können.«

Die Publikation der Xinjiang Police Files fällt mit dem Besuch von Uno-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in Xinjiang zusammen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Nordwesten Chinas zeitweise etwa eine Million Menschen interniert waren. Bei den meisten handelt es sich um Uiguren, eine muslimische Minderheit in der Volksrepublik.

Chinas Regierung behauptet seit Jahren, dass es sich bei den Lagern um berufliche Fortbildungseinrichtungen handele, deren Ziele die Armutsbekämpfung und der Kampf gegen extremistisches Gedankengut seien. Der Aufenthalt in den Lagern sei freiwillig. Dies wird durch die Xinjiang Police Files widerlegt.

Die Grünen-Europaabgeordnete Viola von Cramon erhöhte den Druck auf Bachelet. Der Besuch dürfe nicht zur Propagandashow der kommunistischen Partei verkommen, sagte sie. »Die Weltöffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, zu sehen und zu wissen, was in der Region vorgeht. Die Deutungshoheit über die Zustände in den Internierungslagern kann nicht allein in Xi Jinpings Händen liegen.«

Die ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Margarete Bause forderte einen grundlegenden Kurswechsel in der deutschen Chinapolitik. Es brauche jetzt weitere EU-Sanktionen gegen die Verantwortlichen dieser Verbrechen. »Die Politik der Merkel-Ära mit Vorrang für Wirtschaftsinteressen und Leisetreterei bei Menschenrechten ist gescheitert.« Das gelte für Russland und China.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe schrieb auf Twitter , deutsche Unternehmen müssten nun ihre Aktivitäten in Xinjiang einstellen. »Falls die eigene Überzeugung und das Lieferkettengesetz dazu nicht ausreichen, müssen wir eine Gesetzgebung entlang des britischen Modern Slavery Acts prüfen.«

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg (Grüne), schrieb auf Twitter, Deutschland brauche eine neue Chinapolitik. Die Verbrechen der chinesischen Regierung an den Uiguren seien »systematisch, brutal, menschenverachtend«.

Gefangener im Folterstuhl

Der SPIEGEL hatte am Dienstagmorgen gemeinsam mit dreizehn weiteren Medienhäusern neue Dokumente enthüllt, die die willkürliche und massenhafte Internierung von Uiguren in Xinjiang, einer Region im Nordwesten Chinas, belegen . Darunter befinden sich noch nie gesehene Fotos aus dem Inneren von Umerziehungslagern, vertrauliche Behördenanweisungen und Reden chinesischer Funktionäre. Die Recherchen werden unter dem Titel Xinjiang Police Files veröffentlicht.

So findet sich im Leak beispielsweise eine bislang unbekannte Rede des ehemaligen Parteichefs der Region Xinjiang aus dem Jahr 2017, in der es heißt, jeder Gefangene, der auch nur versuche, ein paar Schritte weit zu entkommen, sei zu erschießen. Ein Foto zeigt außerdem einen Häftling in einem sogenannten Tigerstuhl – einer berüchtigten Foltervorrichtung. Auf anderen Bildern sind Sicherheitskräfte mit Sturmgewehren zu sehen. In einer offiziellen Stellungnahme ging die chinesische Botschaft in Washington nicht auf konkrete Fragen ein, sondern erklärte, die Maßnahmen in Xinjiang richteten sich gegen terroristische Bestrebungen, es gehe nicht um »Menschenrechte oder eine Religion«.

Die Xinjiang Police Files wurden dem deutschen Anthropologen Adrian Zenz zugespielt, der sie wiederum mit dem SPIEGEL, dem Bayerischen Rundfunk und den anderen Recherchepartnern geteilt hat. Zenz, der seit 2021 von der chinesischen Regierung sanktioniert wird, war in der Vergangenheit maßgeblich an der Aufdeckung des Lagersystems in Xinjiang beteiligt. Für den Chinaexperten, der an der »Victims of Communism Memorial Foundation« in Washington forscht, stellen die Xinjiang Police Files eine »neue Dimension« dar. Das Bildmaterial sei einzigartig und widerlege die chinesische Staatspropaganda, dass es sich um »normale Schulen« handle.

slü/ulz/flo/AFP
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