Treffen mit Angehörigen »Hier steht, dass er beschuldigt wird, einen Terrorakt geplant zu haben«
Was passiert hinter den Mauern der sogenannten Umerziehungslager für Uiguren in Xinjiang? Dem SPIEGEL liegen Dokumente vor, die tausendfache Menschenrechtsverletzungen in China beweisen: Die »Xinjiang Police Files« beinhalten Schriftstücke, Schulungsunterlagen für Polizisten, Reden hochrangiger Parteikader und Fotos aus dem Inneren einiger Lager.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Es ist ein Menschenrechtsverbrechen, was im Verborgenen stattfindet. Hier haben wir es nun dokumentiert. Hier haben wir wirklich Namen über Namen, Ausweisnummern über Ausweisnummern. Es ist alles penibel dokumentiert und man sieht auch die Opfer.«
Adrian Zenz, Anthropologe
»Es ist wirklich schwer zu beschrieben, aber es ist wie ein Fenster in einen Polizeistaat, über den ja so wenige Informationen rausdringen. So etwas haben wir noch nie gesehen.«
Die Dokumente wurden dem Anthropologen Adrian Zenz zugespielt. Zenz machte den Datensatz einem internationalen Medienverbund zugänglich. Ein Rechercheteam vom Bayerischen Rundfunk, der BBC und dem SPIEGEL hat die Echtheit der Daten verifiziert.
Das Team hat unter anderem Angehörige von Uiguren aufgesucht, die im Nordwesten Chinas inhaftiert waren und mit den Angaben in den Listen verglichen. Zum Teil haben die Familien seit Jahren nichts mehr von ihren Verwandten gehört.
Bumaryam Rozi, Angehörige
»Das ist mein Neffe. Das ist der Sohn meines Bruders. Was macht er da? Warum ist er da? Er war doch nur ein Student.«
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Es sind Listen mit Menschen, die in Umerziehungslager geschickt wurden oder inhaftiert worden sind. Es sind deren Namen, es sind deren Ausweisnummern drin und deren Haftgründe drin. Das wird ausgeführt, wann sie auch in die Lager geschickt worden sind, für wie lange sie dortbleiben müssen. Und das ist ein einmaliger Einblick.«
Lange waren Satellitenbilder die einzigen Hinweise auf die Internierungslager in Xinjiang. Aus der Vogelperspektive erkennt man, wie beispielsweise das Lager Tekes immer größer wurde. Menschenrechtler sind sich sicher: Hier werden muslimische Minderheiten seit Jahren festgehalten – ohne ordentliche Gerichtsverfahren. Der Vorwand der Kommunistischen Partei: Terrorismusbekämpfung.
Adrian Zenz, Anthropologe
»Es handelt sich mit Sicherheit um ein systematisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es wird auch von Völkermord gesprochen, da es halt doch groß angelegte Zwangssterilisierungen gibt. Es gibt Geburten-Verhinderungsmaßnahmen, Abtreibungen und so weiter. Wir haben hier eine Vielzahl von unterschiedlichen Verbrechen, von der Internierung in Umerziehungslagern zur Zwangsarbeit, zur Zerstörung von Moscheen, Einschränkung der Religion. Es geht darum, diese Menschen, diese Völker zu assimilieren, sie zu brechen innerlich, dass sie der Partei fügig werden, vom Staat besser kontrolliert werden können.«
Unter ständiger Kontrolle stehen auch ausländische Journalisten, wenn sie in der Region im äußersten Nordwesten Chinas recherchieren. Keinen Schritt können sie unbeobachtet machen. Aufnahmen wie diese gelingen nur heimlich. Mit Menschen ins Gespräch kommen ist fast unmöglich, zu groß die Gefahr, dass Sicherheitskräfte darauf aufmerksam werden.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Man hat sich halt diese Strategie überlegt, dass man vermeintlich den Terrorismus und Separatismus aus diesem Landstrich durch brutale Gewalt austreiben möchte. Und so ist man auch auf die Ideen der Umerziehung gekommen, dass man also die Leute damit beschallt, wie großartig China ist und dass die Uiguren Teil der Volksrepublik sind. Eingeschüchtert, wahnsinnig eingeschüchtert sind die Menschen vor Ort. Sie haben Angst. Das ist das, was man im Alltag wahrnimmt.«
Istanbul im Mai 2022: Journalisten vom SPIEGEL und der BBC besuchen den 81-jährigen Mahmut Tohti. Es finden sich gleich mehrere Familienmitglieder in den geleakten Daten aus China.
John Sudworth, Reporter BBC
»Hier bei Nummer 10.498 haben wir eine Übereinstimmung gefunden mit einer Ausweisnummer, die Sie uns gegeben haben. Und hier können Sie das Strafmaß ablesen für Ihren Sohn – 15 Jahre.«
Zur Haftstrafe gibt es in den Dokumenten widersprüchliche Angaben – mal ist von 15, mal von 11 Jahren Gefängnis die Rede. Es ist das erste Mal, dass Mahmut Tothi etwas über das Schicksal seines ältesten Sohnes erfährt.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Was wir gemacht haben, ist vor allem, dass wir Leute versucht haben zu finden, die in den Daten stehen. Also, einige Uiguren befinden sich außerhalb des Landes. Und die Frage war natürlich, wie verifizieren wir nun diese Liste dieser Leute, dass es wirklich reale Menschen sind? Ich erinnere mich an ein Interview, ja, man kann es gar nicht anders sagen. Es war sehr, sehr, sehr traurig. Es war erschütternd. Wir mussten einem 81-jährigen Mann erzählen, dass sein ältester Sohn verurteilt worden ist. Und der ist natürlich zusammengebrochen, weil er das erste Mal verstanden hat, dass er seinen Sohn wahrscheinlich nicht noch einmal wiedersehen würde.«
John Sudworth, BBC
»Hier steht, dass er beschuldigt wird, einen Terrorakt geplant zu haben.«
Mahmut Tohti, Angehöriger
»Oh mein Gott, mein Gott. Er weiß doch noch nicht mal, wie man ein Messer richtig hält. Wie soll er einen Terrorakt planen?«
Nicht nur Mahmuts ältester Sohn Polat ist im Gefängnis, auch sein jüngster Sohn Ghappar ist zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt.
Mahmut Tohti, Angehöriger
»Meine Enkelin hat mich gefragt: Warum hast du meinem Vater erlaubt, Religion zu studieren? Warum hast du ihm erlaubt, sich weiterzubilden? Hätte er keine Bildung, dann hätten sie ihn nicht verhaftet und weggesperrt. Meine Enkeltochter stellt mir immer wieder diese Fragen, sie verfolgen mich.«
Rund eine Million Uiguren, Kasachen und weitere Minderheiten sind nach Informationen der Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren im Nordwesten Chinas in sogenannten Umerziehungscamps inhaftiert gewesen. Peking behauptet, es handele sich bei den Camps um »Berufsbildungszentren«, in denen der Aufenthalt freiwillig sei. Hier Aufnahmen von einem geführten Pressetermin im Januar 2019 in Kashgar. Für die Kameras ausländischer Medien singen die Insassen ein Lied auf Englisch:
»If you are happy and you know it, clap your hands.«
Die Dokumente und Fotos aus den »Xinjiang Police Files« belegen allerdings, dass viele Tausende Menschen gegen ihren Willen in solchen Lagern gefangen gehalten werden.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Das ist ein einmaliger Einblick auch in dieses System, weil die chinesische Propaganda ja immer auch gesagt hat, dass es eine totale Freiwilligkeit der Leute gebe, und dass es Ausbildungszentren sind. Und man kann halt jetzt aus diesen Daten auch sehen, dass das nicht stimmt, also dass da Menschen über 70 plötzlich im Lager sind, die vermeintlich eine Berufsausbildung bekommen sollen.«
Auf einer Fotoserie aus dem Camp Tekes sieht man, wie Wärter einem Häftlinge Handschellen und Fußfesseln anlegen und abführen. Ein Häftling ist in einem sogenannten »Tiger Chair«, einem Folterstuhl festgekettet. Die Wachmänner sind schwer bewaffnet.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Was die Stärke des Materials ist, ist, dass auch sehr, sehr viele Fotos enthalten sind. Also dieses Menschenrechtsverbrechen, was dort in China passiert und anders kann man es nicht beschreiben, dass das auch wirklich zum ersten Mal ein Gesicht bekommt.«
Tunisagül Nurmemet ist seit 5 Jahren verschwunden. Ihr Ehemann war zum Zeitpunkt des Verschwindens auf einer Geschäftsreise – seitdem lebt er im Exil. In den Niederlanden macht das Rechercheteam Abdurahman Hasan ausfindig. Sie wollen wissen: Ist die Frau auf dem Foto wirklich seine Ehefrau?
Abdurahman Hasan, Angehöriger
»Das ist ein Foto meiner Frau. Wenn Sie sich das anschauen, verglichen damit, wie sie früher aussah, dann sehen Sie, wie sehr sie sich verändert hat. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sehr sie leidet. Ich sehe nichts mehr von dem, was sie früher ausmachte. Ich kann fühlen, wie sie von denen zerstört wurde.«
Auch das Strafmaß findet sich in den Unterlagen.
John Sudworth, BBC
»Hier haben wir das Strafmaß von ihrer Frau.«
Abdurahman Hasan, Angehöriger
»16 Jahre…«
Seiner Frau wird die Organisation einer nicht angemeldeten Veranstaltung vorgeworfen. Über den Verbleib seiner heute sechs und acht Jahre alten Kinder weiß Abdurahman Hasan nichts. Er vermutet, dass sie in einem Waisenhaus untergebracht sind.
Abdurahman Hasan, Angehöriger
»2017 habe ich China wegen einer Geschäftsreise verlassen. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich nicht zurückgehen kann. Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass die Kommunistische Partei so viele Menschen verhaftet und so viele Menschen festhält. Ich hätte nie gedacht, dass sie einen Genozid begehen, dass sie Menschen töten. Ich habe meine Frau und meine Kinder zurückgelassen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es das letzte Mal ist, dass ich sie sehe.«
Wie es für seine inhaftierte Frau weitergeht und ob Abdurahman Hasan seine Kinder irgendwann wiedersieht, ist ungewiss.
Christoph Giesen, DER SPIEGEL
»Wir wissen eigentlich nur, dass diese Menschen für sehr, sehr lange Zeit hinter Gittern verschwinden. Für vermeintliche Delikte, die es in Deutschland nicht mal gibt, für die man im schlimmsten Fall vielleicht eine Ordnungswidrigkeit begangen hätte. Das ist die Realität dort. Es ist ein völlig außer Kontrolle geratene System, was Menschen ihres Lebens beraubt.«

Die Xinjiang Police Files zeigen, wie brutal die chinesischen Behörden bei der Unterdrückung von Uiguren vorgehen – der SPIEGEL hat das Datenleck gemeinsam mit internationalen Partnern ausgewertet. Alle Texte, Videos, Beiträge finden Sie hier.