
Fahrradparadies Amsterdam: Mehr Räder als Menschen
Fahrradparadies Amsterdam Die Speichenstadt
Amsterdam ist die selbst ernannte "Stadt der Fahrräder" - und tut alles dafür, diesem Ruf gerecht zu werden. Deshalb sorgten Pläne eines Architektenbüros für einen Aufschrei bei der Drahteselfraktion in der niederländischen Hauptstadt: Das Büro, zuständig für den Umbau des Reichsmuseums, wollte die Torbögen des Gebäudes für Radfahrer sperren - obwohl man seit dem 19. Jahrhundert mit dem Rad durch das Museum ins Stadtzentrum gelangt. Damit sollte nun Schluss ein?
Die Liebe der Holländer zum Fahrrad hat Tradition, sogar Königin Wilhelmina (1880 - 1962) schwang sich auf das doch sehr bürgerliche Fortbewegungsmittel, und während der Besatzungszeit durch die Nationalsozialisten beschlagnahmten deutsche Soldaten die Fahrräder vieler Niederländer - ein 1979 erschienener autobiografischer Roman von Rudi Carrell trägt den Titel "Gib mir mein Fahrrad wieder".

Köningin Wilhelmina auf ihrem Fahrrad
Foto: Stichting Vrienden van het Nationaal ArchiefNach dem Ende des Weltkriegs drohte das Auto dann das Fahrrad zu verdrängen. Mit dem steigenden Verkehrsaufkommen nahmen allerdings auch die Zahl der tödlichen Unfälle dramatisch zu. In den Siebzigerjahren formierten sich deshalb zwei große Aktivistengruppen, die sich für mehr Zweiräder und weniger Risiko auf den Straßen einsetzten. Ihre Fahrradkorsos und Guerillaaktionen wie das nächtlichen Aufpinseln von Fahrradwegen auf Straßen waren erfolgreich: Sie bewegten die Politik dazu, die Infrastruktur für Radler auszubauen.
Aktuelle Zahlen belegen die Wirkung solcher Maßnahmen in Amsterdam: In den letzten 20 Jahren ist der Anteil der Radfahrer in der Stadt um 40 Prozent gestiegen. Mehr als die Hälfte der städtischen Fortbewegung findet heute mit dem Fahrrad statt. 73 Prozent der Amsterdamer haben mindestens ein Fahrrad, 58 Prozent radeln täglich und legen dabei zusammen pro Tag zwei Millionen Kilometer zurück.
Und der Trend - weg vom Auto, hin zum Fahrrad - wird weitergehen. Die Stadtvertreter planen, in den kommenden Jahren weitere 200 Millionen Euro in die Fahrradfreundlichkeit zu investieren.
Von wegen "Kampfradler"
Mehr Fahrräder bedeuten aber auch neue verkehrspolitische und stadtplanerische Herausforderungen: Wie regelt man den Verkehr mit so vielen Radlern? In manchen Straßen Amsterdams kommen inzwischen zehn Fahrräder auf ein Auto.
In Zukunft sollen Radschnellwege deshalb auch längere Strecken attraktiver machen. Von Autos dominierte Straßen werden zu Fußgänger- und Radwegen umgewidmet. Oder es werden reine Radwege gebaut, auf denen Autos nur in Ausnahmefällen erlaubt sind und sich der Fahrrad-Geschwindigkeit anpassen müssen. So versucht die Stadt, das stetige Wachstum der Radmobilität stadtplanerisch zu managen.
Doch auch die Verkehrserziehung ist eine große Herausforderung. Immer wieder gibt es Beschwerden über sogenannte "Kampfradler". Laut einer aktuellen Studie der Amsterdamer Universität, bei der an zehn viel befahrenen Kreuzungen über 18.000 Radfahrer gefilmt wurden, verhalten sich allerdings lediglich fünf Prozent rücksichtslos.
18.000 Bikes parken an den zentralen Bahnstationen
Polizeiliche Maßnahmen nützen bei diesen Wenigen ohnehin nichts. Wenn breit angelegte Kontrollen zur Disziplinierung der Radfahrer durchgeführt werden, reicht die Regeltreue meist ziemlich genau bis zum Ende der jeweiligen Maßnahme.
Ein echtes Problem der Fahrradfreundlichkeit liegt woanders: Wohin mit den Massen an Rädern? Allein an den zentralen Bahnstationen (Haupt- und Südbahnhof) werden jeden Tag 18.000 Fahrräder von Pendlern abgestellt.
Die Stadt plant deswegen, 50.000 weitere Stellplätze zu schaffen, ausschließlich für Fahrräder - in Parkhäusern, Tiefgaragen und auf mobilen Pontons. Zumindest für einen Tag sollen die Stellplätze dann kostenlos sein, um Dauerparken zu verhindern.
Diebstahlrate halbiert
Wer sein Rad irgendwo abstellt, läuft ohnehin Gefahr, dass es gestohlen wird. Bei einer solchen Masse an Fahrrädern ist Diebstahl immer ein Problem - aber auch ein Thema für kreative Lösungen: Die Stadt verkaufte einfach Zehntausende Fahrräder, die jährlich in Amsterdam konfisziert werden, zu ähnlichen Preisen wie die Diebe. Die Diebstahlrate halbierte sich so zwischen 2001 und 2008. Als positiver Nebeneffekt soll sich auch die Anzahl der Heroin-Abhängigen halbiert haben, weil sie ihre Sucht nicht mehr über den Verkauf geklauter Fahrräder finanzieren konnten.
Amsterdam und das Fahrradfahren sind inzwischen untrennbar miteinander verwachsen. Natürlich ist auch der Umbauplan für das Reichsmuseum am Widerstand der Fahrrad-Lobby gescheitert. Inzwischen düsen schon wieder Heerscharen von Radfahrern mitten durch das frisch sanierte Amsterdamer Wahrzeichen.