Bad Hersfeld - Würzburg Die vergessene Reichsautobahn

Nördlich von Würzburg verbirgt tiefer Wald Brückenpfeiler, die ins Leere ragen, und Schächte ohne Zweck: die Reste einer der ersten Autobahnen Deutschlands. Ein Hobby-Historiker hat jeden Kilometer erforscht. Ein Marsch zu den Ruinen der Nazi-Architektur.
Von Marcus Müller

Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Dieter Stockmann, wenn er seinen Lieblingssatz sagt und dabei einen Ast zur Seite biegt: "Jetzt gehen wir wieder auf der Autobahn." Stockmann weiß, dass er sich merkwürdig anhört. Denn der 47-Jährige stapft mit fest geschnürten Wanderstiefeln durch üppiges Moos und raschelnde Blätter, vorbei an Fichten und Birken. Es ist tiefer Wald und doch Autobahn unter seinen Füßen: Durch Rhön und Spessart sollte sich einst die "Strecke 46" schlängeln – als Route für Auto-Wanderer. Heute stehen noch einige der massigen Bauwerke als Ruinen in der Landschaft, und Stockmann hat sie alle akribisch erforscht.

Die ab 1937 gebaute Autobahn hätte von Bad Hersfeld über Fulda nach Würzburg durch Wälder und Täler geführt, an Flüssen und Burgen vorbei und hinauf in die Berge. Den damaligen Autofahrern sollte das waldreiche, idyllische Deutschland gezeigt werden. Eine gewollte Romantisierung und Ideologisierung durch die Nationalsozialisten und das Gegenteil heutiger, rein funktionaler Autobahnen. Doch so weit kam es nicht. Mit Kriegsbeginn wurde der Bau eingestellt, bereits zuvor waren viele Arbeiter von der Autobahn abgezogen worden, um den Westwall zu errichten. Der "Strecke 46" fehlte da nur noch die Betonfahrbahn.

Brücken wurden mit Steinen aus der Region verkleidet

Heute steht, was übrig blieb, als unwirklicher und überflüssiger Klotz riesig in der Landschaft oder schmiegt sich überwuchert in die Natur. Zwischen den Orten Gräfendorf und Schonderfeld etwa ragt auf einer weiten grünen Wiese fast 18 Meter hoch, 25 Meter breit und gut vier Meter dick ein rötlich-brauner Pfeiler auf. Der Regen hat dicke grau-weiße Kalkspuren ausgewaschen. Der abgerundete Pfeiler hätte mit weiteren Betonstützen die Saalebrücke tragen sollen – geplant war ein 260 Meter langes Bauwerk. Die Ackerfläche um den einzigen fertigen Pfeiler kann nicht genutzt werden, weil sich im Boden noch die Reste der anderen Stützen finden.

Dieter Stockmann klatscht mit der flachen Hand auf die Buntsandstein-Verkleidung: "Drinnen ist das aus massivem Beton gegossen." Der Hobby-Historiker gerät fast ins Schwärmen über die technischen Eigenschaften der Bauwerke der "Strecke 46". Er erklärt, dass die Brücken extra mit Steinen aus der Region verblendet wurden, damit sie sich besser in die Landschaft einfügten. Es habe einen eigenen Ingenieur gegeben, der für die Verzierungen verantwortlich war und die Arbeit der Steinmetze überwachte. Die Nationalsozialisten engagierten sogar Landschaftsanwälte, damit auf die Natur Rücksicht genommen werde, erzählt Stockmann.

Nach heutigen Maßstäben war das aber auch eher Ideologie: Nahe der hessisch-bayerischen Grenze beim Ort Eckarts hätte wohl ein halber Berg der Trasse weichen müssen. "Der wäre einfach weg gewesen", sagt Stockmann trocken. Fast 70 Jahre nach dem Ende der Bauarbeiten hat sich die Natur den für die Autobahn gut 40 Meter breit in die Wälder geschlagenen Streifen zurückerobert. Die rund 70 Kilometer lange Strecke von der hessischen Grenze bis nach Würzburg ist noch heute gut zu erkennen: Die Bäume auf der Autobahn sind heller als die älteren in der Umgebung.

Klettergarten an Brückenpfeiler

Der freistehende Pfeiler bei Schonderfeld ist eins der wenigen weithin sichtbaren Bauwerke. Überlegungen, ihn nach dem Krieg zu sprengen, wurden wieder fallen gelassen, weil die Detonation wohl auch in den umliegenden Dörfern mindestens die Dächer abgedeckt hätte, sagt Stockmann. Und so nutzt seit rund zehn Jahren der Alpenverein den Pfeiler für Kletterübungen. Auf der Spitze haben die Sportler ein Geländer und ein Gipfelkreuz angeschraubt, mit roten Pfeilen sind am Boden die Kletter-Routen markiert.

"Heute würde man nicht mehr so wuchtig bauen", erklärt Stockmann. Denn in den Beton-Pfeilern und Brücken befindet sich kein Gramm Stahl. "Der wurde für die Rüstungsproduktion benötigt." Der Hobby-Historiker ist damit am heiklen Punkt seiner Recherche angelangt: dem Mythos deutsche Autobahn.

Denn natürlich schwingt der immer mit, wenn es um die "Strecke 46" geht. Als "Straßen des Führers" wurden die Autobahnen immer wieder propagandistisch ausgeschlachtet. Groß wurde etwa 1933 der erste Spatenstich Adolf Hitlers für den Bau des Abschnitts Frankfurt-Darmstadt inszeniert. Es wurde die Legende geboren, Hitler habe die Autobahnen schon in seiner Festungshaft in Landsberg eigenhändig auf die Landkarte gemalt. Sie gelten als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit militärischem Hintergrund.

Dieter Stockmann kennt diese Fragen. Akribisch hat er auch diese Seite des Straßenbaus recherchiert und in seinem detaillierten Buch über die "Strecke 46" nachgezeichnet. Er will sich nicht in die rechte Ecke stellen lassen. Und so zählt er auf, dass Pläne für Autobahnen schon vor Hitlers Machtergreifung 1933 existierten und die erste Strecke bereits 1932 eingeweiht wurde, dass die Betonplatten auf den Brücken unter der Last von Panzern zerbrochen wären oder auf den Baustellen längst nicht so viele Menschen arbeiteten, dass damit die Arbeitslosigkeit deutlich gesenkt werden konnte. Obendrein sei die Bezahlung der Arbeiter miserabel gewesen, weshalb damals auch von "Elendsbahnen" gesprochen worden sei.

Denkmalschutz für längste historische Autobahnruine

Trotzdem ist natürlich auch das Propaganda-Spektakel, das im Dritten Reich um die Autobahnen betrieben wurde, ein Teil ihrer Geschichte. In einem Buch wurden die Ruinen der "Strecke 46" kürzlich in eine Liste "böser Orte" und "Stätten nationalistischer Selbstdarstellung" eingereiht. Dieter Stockmann hört das nicht gerne. Ihm gehe es um die technische Meisterleistung des Baus, sagt er. Außerdem sei gerade mit der "Strecke 46" relativ wenig Propaganda betrieben worden, nie habe einer der großen Nationalsozialisten sich auf der Baustelle blicken lassen.

Doch in der Region wurde die Erinnerung an die "vergessene Autobahn", wie Stockmann sie nennt, begraben. Pläne für einen Naturlehrpfad auf der "Strecke 46" scheiterten vor einigen Jahren. Die Gemeinden hätten das Projekt abgelehnt, sagt Stockmann. "Man wolle kein Anziehungspunkt für Rechtsradikale werden, hieß es." Gelegentlich bietet er aber trotzdem seine Tour "Mit dem Wanderstock über die Autobahn" an. Zum Tag des Denkmals etwa, denn Teile der Strecke stehen als längste historische Autobahnruine unter Denkmalschutz.

Bis zu 40 Menschen stapfen dann mit Stockmann durch das Dickicht. Nazis seien noch nie dabei gewesen, sagt er. Denen würde er die Strecke auch nicht zeigen: "Mit braunen Gesellen will ich nichts zu tun haben", sagt der Leiter der Unteren Naturschutzbehörde Main-Spessart. Ihn treibe bei seinen Recherchen das Glücksgefühl, ein Puzzle zusammenzufügen. So hat er rund 6000 alte Fotos vom Autobahnbau aufgetrieben. Er hat in fast allen einschlägigen Archiven nach Bauunterlagen und Karten gesucht und vor Jahren noch mit den letzten Zeitzeugen gesprochen. Heute ist fast niemand mehr übrig, der noch vom Bau der "Strecke 46" erzählen könnte.

Freiluftpark bizarrer Orte

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deren Route in der Region nicht fortgeführt. Aus technischen Gründen: Denn wegen ihrer Anlage als Autowander-Strecke durch die Landschaft war die "Strecke 46" für den modernen Verkehr kaum brauchbar. Stockmann erklärt das bei der Abfahrt in den Ort Gräfendorf mit dem mächtigen Gefälle dort. An dem Berg hätte die Autobahn kurz hintereinander auch noch drei 90-Grad-Kurven gehabt. "Da wäre bei Glatteis bestimmt so mancher Lkw in die Höfe gerauscht", sagt Stockmann. Auch an anderen Stellen waren für Laster nur mühsam zu überwindende Steigungen vorgesehen.

In Bayern wurde die A 7 daher später 20 Kilometer entfernt gebaut, sie schwenkt bei Bad Brückenau nach Schweinfurt ab. In Hessen verläuft die Autobahn dagegen größtenteils so, wie sie vor dem Krieg geplant wurde.

Im Freistaat blieb ein Freiluftpark bizarrer Orte übrig: fertige Brücken, die für die 20 Meter hohen Fichten und Birken darauf gebaut zu sein scheinen und lediglich über staubige Feldwege oder mickrige Landstraßen führen; im Wald verstreute Betonklötze, die einmal Wasserzisternen oder Baubuden waren; Schachtöffnungen im Moos, die zu Entwässerungsleitungen führen. Dieter Stockmann fasziniert die Wanderung durch den Wald entlang der massigen Überreste: "Die 'Strecke 46' ist ein Juwel", sagt er. Und sie war so ganz anders als heutige Autobahnen. Die seien nur Mittel zum Zweck, um von A nach B zu gelangen. Das Lied "Autobahn" der deutschen Band Kraftwerk drücke diese Monotonie ganz gut aus, sagt Stockmann. Es ist nicht sein Lieblingslied.

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