Demolierter Tesla-Leihwagen Eine Branche zerlegt sich

Tesla Model X (Symbolbild)
Foto: Jason Reed/ REUTERS"Da scheppert nix. Warum kann's der und wir nicht?" So schnaubte Martin Winterkorn im Jahr 2011 - damals war er noch VW-Konzernchef - auf der IAA in Frankfurt, als er bei einem Hyundai i30 die Lenkradverstellung ausprobierte. Der grantelnde Auftritt Winterkorns wurde zum YouTube-Hit.
Man kann sicher sein, dass kurz darauf ein Hyundai i30 im Wolfsburger VW-Werk stand und speziell die Lenkradverstellung bis auf die letzte Schraube zerlegt wurde.
Jüngst erregte ein ähnlicher Fall Aufsehen: Daimler-Benz hatte sich ein Fahrzeug des Elektroauto-Konkurrenten Tesla verschafft und auf Herz und Nieren geprüft. Warum auch nicht? Das Vorgehen ist völlig normal in der Autoindustrie: Hersteller besorgen sich Konkurrenzprodukte, um herauszukriegen, wie sie konstruiert sind.
Ebenso normal ist: Autos für einen solchen "Product tear down" (etwa: Produkt-Zerlegung) werden in aller Regel käuflich erworben. Das hingegen tat Daimler vor einigen Monaten aber nicht, sondern lieh sich stattdessen ein Elektroauto vom Typ Tesla Model X beim Autovermieter Sixt. Nach sieben Wochen ging der Wagen an den Verleiher zurück - ziemlich ramponiert. Offensichtlich war das Fahrzeug einmal komplett auseinandergelegt und auf Teststrecken gemartert worden. Vom SPIEGEL danach befragt, teilte das Unternehmen mit, man wolle sich zu einzelnen Fahrzeugmieten nicht äußern.
Seltsames Gebaren von Daimler
Hört man sich in der Branche um, herrscht allenthalben Kopfschütteln über das zumindest seltsame Daimler-Gebaren. Dass Leihwagen zerlegt werden, ist anscheinend sehr unüblich.
"Dass Autos von Konkurrenzfirmen akribisch untersucht werden, ist an sich nichts Neues", sagt Stefan Bratzel, Professor für Automobilwirtschaft an der Fachhochschule Bergisch Gladbach. Auch, dass sich die Erkenntnisse aus der Konkurrenzbeobachtung im eigenen Produkt später niederschlagen, komme durchaus vor. Früher seien mitunter japanische Hersteller für die extremste Form der Beobachtung, das sogenannte Re-Design, geschmäht worden.
Dass es sinnvoll und wichtig ist, die Produkte der Wettbewerber möglichst genau zu kennen, hätten inzwischen aber alle Hersteller erkannt. "Diese Art von Wissensaustausch wird sogar immer wichtiger", sagt Bratzel. "Deshalb werden unter den deutschen Herstellern Autos zu diesem Zweck oft ausgetauscht, das ist teilweise schon fast institutionalisiert."
Ein BMW-Sprecher bestätigt dies: "Bei derartigen Tauschgeschichten wird vieles auf dem kurzen Dienstweg geklärt." VW Golf gegen Opel Astra, BMW 5er gegen Audi A6 oder Mercedes SLK gegen Porsche Boxster - so ungefähr kann man sich das vorstellen, wenn sich das Testwagen-Tauschkarussell dreht.
Materialtest unterm Elektronenmikroskop
Nach Auskunft von diversen Herstellern ergibt sich folgendes Bild: Ja, es werden durchaus Autos zu Testzwecken getauscht - allerdings komme es im Einzelfall immer auf ein "gutes Vertrauensverhältnis" an. Wo die Zuneigung nicht ganz so groß ist, kaufen die Firmen die Autos, die sie interessieren; und zwar mit exakt der Motorisierung und Ausstattung, die unter die Lupe genommen werden soll. Dann spielt es keine Rolle mehr, wie stark diese Wagen auf Teststrecken geschunden, wie lange in Kältekammern geparkt oder ob sie total zerlegt werden.
"Manchmal kommen einzelne Blechteile sogar unters Rasterelektronenmikroskop, um das Material genau zu analysieren", sagt ein Mitarbeiter eines großen deutschen Herstellers, der anonym bleiben möchte.
Einzelne Blechqualitäten, die Konstruktion von Radaufhängungen, das Material in der Armaturentafel - all diese kleinen Geheimnisse jedes einzelnen Herstellers sind, wenn man das Produkt erst einmal in Händen hat, leicht herauszukriegen. Schwieriger wird es beim Thema Elektronik. "Welche Programme auf den Prozessoren laufen, an dieses Wissen kommt man von außen nicht heran", sagt ein Industrie-Insider.
Leihwagen kommen zum Beispiel bei Designvergleichen zum Einsatz
Tatsächlich kommen manchmal auch Leihwagen zum Einsatz: Wenn die zur "Wettbewerbsbeurteilung" benötigten Autos nicht mehr als bei Mietwagen ohnehin üblich beansprucht werden, dann nutzen die Hersteller durchaus auch das Angebot von Autovermietern. "Zum Beispiel für Akustiktests oder bei Veranstaltungen für Vertriebsmitarbeiter, damit die auch die Konkurrenzmodelle kennenlernen", sagt ein Unternehmenssprecher. Auch bei sogenannten Car-Clinics kommen Leihfahrzeuge zum Einsatz: Etwa wenn ein Autohersteller mittels einer Gruppe Testpersonen ermitteln möchte, wie das Design eines neuen Modells im Vergleich zu den direkten Konkurrenten beurteilt wird.
Weil das Interesse an derartigen Wettbewerbsvergleichen groß ist, gibt es inzwischen sogar Spezialunternehmen, die Testwagen für Forschung und Entwicklung anbieten. Solche wie die Firma Arndt Automotive aus Neuss, die auf ihrer Webseite wirbt, sie sei auf "die individuellen Branchenanforderungen spezialisiert". Dazu gehören, liest man weiter, unter anderem Fahrzeuge für Dauertests, Produktvergleiche oder Marktforschung.
"Letztlich", sagt Autoexperte Bratzel, "profitiert der Kunde vom regen Austausch der Konkurrenten. Denn so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Fahrzeuggeneration tatsächlich etwas besser wird als die vorherige."