Tretroller vs. Auto "Der E-Scooter ist das iPhone der Mobilität"

E-Scooter (Symbolbild)
Foto: Getty Images/Westend61Elektrische Tretroller boomen weltweit - und noch im Frühjahr sollen sie auch in Deutschland für den Verkehr zugelassen werden. Die so genannte Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung erlaubt den Betrieb der Scooter und anderer E-Fahrzeuge auf Radwegen und Straßen.
Darauf warten Sharingfirmen wie Bird oder Lime sowie deutsche Start-ups: Sie verleihen die einfach zu bedienenden Fahrzeuge minutenweise und erhoffen sich auch hierzulande ein rasant wachsendes Geschäft.
Der Aufstieg der Tretroller begann im September 2017 - seither verleiht Bird die Geräte in Santa Monica, Kalifornien. Sie waren von Anfang an unglaublich populär, gelten aber auch als nicht ganz ungefährlich.
Analyst Horace Dediu beobachtet den Markt für Mikromobilität seit einigen Jahren. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt er, warum er darin nicht bloß eine Nische sieht.

Horace Dediu, Jahrgang 1968, ist Business-Analyst und Experte für komplexe Datenanalysen. Seit 2002 beschäftigt er sich mit dem Markt für mobile Computerplattformen und Software, zuerst für Nokia und seit 2009 als unabhängiger Analyst und Autor unter www.Asymco.com. Sein zweiter Schwerpunkt seit drei Jahren ist die Mobilität mit dem Schwerpunkt Mikromobilität. Er lebt abwechselnd vor allem in Helsinki, Boston und San Francisco.
SPIEGEL ONLINE: Warum sehen Sie in kleinen Rollern und nicht in autonomen Autos die Zukunft der Mobilität?
Horace Dediu: Autonome Pkw sollen ein existierendes System besser machen - das System "Autos auf Straßen". Dieses Konzept ist aber zunehmend irrelevant.
SPIEGEL ONLINE: Weshalb?
Horace Dediu: Wir bezahlen beim Kauf eines Autos nur im Voraus für ein großes Bündel von Fahrten in den Folgejahren. Diese Fahrten sind mal ein paar hundert Meter lang, mal ein paar hundert Kilometer. Wenn man diese Fahrten aber entbündelt, müssen sie nicht mehr alle in derselben Metallkiste stattfinden.
SPIEGEL ONLINE: Ausgerechnet kleine elektrische Tretroller, also E-Scooter, sollen das System Auto aufbrechen - in Deutschland und weltweit?
Dediu: Sie ermöglichen Disruption von unten. Der Roller entwickelt sich weiter bei Reichweite, Sicherheit und anderen Kategorien. Er nimmt den etablierten Verkehrsmitteln immer mehr Kilometer ab. Das geht bei einem Kilometer los und reicht bis ungefähr 20 Kilometer. Der größte Teil dieser Fahrten ist jedoch sehr kurz. Für die USA habe ich die Verteilung ausgerechnet: Wenn man alle Fahrten unter 20 Kilometern zusammennimmt, entsprechen diese in der Menge und im finanziellen Wert allen Fahrten, die über diese Entfernung hinausgehen.

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SPIEGEL ONLINE: Wird deshalb gerade so viel in Scooter-Start-ups investiert?
Dediu: Ja. Schon jetzt leben 75 Prozent der Europäer in Städten. Bis 2050 werden weltweit bis zu 70 Prozent aller Menschen in Städten wohnen. Die Urbanisierung treibt den Trend zu kürzeren Entfernungen voran.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Belege, dass diese Entwicklung Menschen massenhaft auf andere Verkehrsmittel lockt?
Dediu: Den stationslosen Fahrradverleih gibt es in China erst seit drei Jahren. Heute haben diese Dienste 400 Millionen registrierte Nutzer, 70 Millionen aktive Nutzer täglich und eine Flotte von ungefähr 23 Millionen Rädern. Die elektrischen Roller, die in den USA in Mode sind, gibt es erst seit September 2017. Die zwei größten Verleiher, Bird und Lime, haben in einem Jahr schon jeweils zehn Millionen Fahrten registriert. Diese Wachstumsraten liegen im Bereich von Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram - bei den Scooter-Sharing-Diensten sogar auf dem Niveau von Android oder iPhone.

Mikromobilität: Treten war gestern
SPIEGEL ONLINE: Es gibt viele Unfälle mit E-Scootern. Müssen nicht erst sichere Wege gebaut werden?
Dediu: Viele Menschen glauben, dass, wenn man Infrastruktur baut, Wachstum folgen wird. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Fahrzeuge ihre eigene Infrastruktur vorantreiben und dass diese möglicherweise sogar von den Unternehmen selbst bezahlt wird.
SPIEGEL ONLINE: Warum sollten sie das tun?
Dediu: Tatsache ist, dass allein in den USA 1,6 Billionen gefahrene Kilometer pro Jahr neu zu verteilen sind, weltweit bis zu fünf Billionen. Wenn man einen Preis von 50 Cent pro Kilometer ansetzt, haben wir es mit Billionen von Dollar zu tun. Und wenn so viel Geld einzusammeln ist, gibt es keine Grenzen.
SPIEGEL ONLINE: Sollte man die neuen Mobilitäts-Plattformen nicht einschränken, bevor sie zu mächtig werden, so wie Facebook?
Dediu: Wie wir diese Systeme regulieren können, werden wir herausfinden, wenn sie da sind. Wenn wir versuchen, es im Voraus gut zu machen, wissen wir ja noch nicht, wie die Menschen sie nutzen werden. Das wäre so, als wenn wir im Jahr 2007 gesagt hätten: "Lass uns keine Apps machen, weil sie missbraucht werden könnten." Damit hätten wir das gesamte System so stark eingeschränkt, dass niemand Apps entwickelt hätte.

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SPIEGEL ONLINE: Also soll die Politik nicht eingreifen?
Dediu: Es wird eine Menge Gesetze geben, das ist sicher. An erster Stelle wird aber das Verhalten der Menschen stehen. Daraus ergeben sich wirtschaftliche Fragen, und daraus leiten sich Gesetze und gesellschaftliche Fragen ab. Wenn wir Menschen sagen "Bitte verhaltet euch besser", werden sie sich wahrscheinlich nicht ändern. Aber wenn wir Anreize schaffen und Grenzen abstecken, können wir erreichen, dass Menschen ihr Verhalten ändern. Ich hoffe, dass die Technologie, die wir jetzt haben, eine sehr einfache, sehr zugängliche Technologie ist, die Menschen glücklich macht. Und wenn sie glücklich sind, werden sie sich besser verhalten.
SPIEGEL ONLINE: Werden wir in Zukunft noch zu Fuß gehen?
Dediu: Komisch, dass viele Leute denken, Roller werden das Gehen ersetzen. Ich denke auch, dass sie das bis zu einem gewissen Grad tun werden. Aber was das Auto, den Roller und auch das Fahrrad verbindet ist, dass sie ihre eigene Nachfrage geschaffen haben. Die Wege, für die wir Roller nutzen, werden mit größeren Fahrzeugen konkurrieren und mit Wegen, die wir ohne dieses Fahrzeug nicht zurücklegen würden.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung haben wir Horace Dediu mit den Worten zitiert: "Tatsache ist, dass eine Billion Fahrten allein in den USA neu zu verteilen sind, weltweit bis zu drei Billionen." Dediu hat seine Angaben korrigiert. Statt Fahrten habe er gefahrene Meilen gemeint. Folglich geht es um (umgerechnet) gut 1,6 Billionen Kilometer in den USA und knapp fünf Billionen weltweit. Das daraus resultierende Marktvolumen hat Dediu von "Dutzenden Billionen von Dollar" zu "mehrere Billionen Dollar" korrigiert.