Stickoxide und Feinstaub Wie Grenzwerte entstehen - und wer sie festlegt

Deutschland streitet über Schadstoffgrenzwerte - dabei vernebeln Halbwahrheiten und Falschinformationen oft den Blick. Hier sind die Fakten.
Autoverkehr an der Bismarckstraße in Berlin

Autoverkehr an der Bismarckstraße in Berlin

Foto: Sean Gallup / Getty Images

Fahrverbote, Tempolimit, Diesel-Proteste: Die aktuelle Diskussion um Schadstoffgrenzwerte und deren Folgen spaltet Deutschland in zwei Lager. Seit Lungenärzte in einem Positionspapier Zweifel am Abgas-Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft geäußert hatten, steht dieser im Zentrum der Debatte.

Verfolgt man die Diskussion und einzelne Wortmeldungen, zum Beispiel in den sozialen Netzwerken, könnte man meinen, die Grenzwerte seien 2017 handstreichartig von einer grünen Öko-Politmafia herbeibeschworen worden. Grenzwerte sind völlig willkürlich! In den USA gelten deutlich laxere Grenzwerte! Rauchen ist viel ungesünder als die Pkw-Abgase, und trotzdem stirbt niemand daran! So lauten die teils steilen Thesen, die dort vorgetragen werden. Aber stimmen sie wirklich? SPIEGEL ONLINE gibt einen Überblick, was es damit auf sich hat, woher die Grenzwerte kommen und wie sie entstehen.

Wie und wann wurden die Grenzwerte beschlossen?

Hierzulande gilt für Stickstoffdioxide (NO2) ein Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. Der Grenzwert wurde im Jahr 1999 auf Basis des Vorschlags der Europäischen Kommission von den EU-Mitgliedstaaten beschlossen - auch unter Beteiligung der deutschen Umweltbehörden und der damaligen Umweltministerin Angela Merkel. Die EU stützt ihre Vorschläge für Grenzwerte dabei auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - so auch bei NO2.

Wie entstehen die Grenzwerte?

Internationale Expertengremien erarbeiten gemeinsam mit der WHO regelmäßig Zusammenfassungen der verfügbaren wissenschaftlichen Studien. Diese werden diskutiert und nach systematischen Kriterien bewertet und auch von externen Experten begutachtet. Auf dieser Basis spricht die WHO eine Empfehlung in Form eines Richtwerts an die EU-Kommission aus. Diese kann dann entscheiden, ob sie den Richtwert übernimmt und den EU-Mitgliedstaaten vorschlägt, welche dann erneut über den Grenzwert abstimmen.

Insgesamt sind aktuell mehr als 71.000 Arbeiten zur Schadstoffbelastung in der medizinischen Fachliteratur verfügbar. "Die wissenschaftliche Evidenz ist in den letzten 30 Jahren enorm gestiegen, und diese Kurve geht weiterhin aufwärts. Alle paar Tage, alle paar Wochen kommen neue Studien heraus, auf sehr soliden wissenschaftlichen Grundlagen, die diese Auswirkungen untersuchen", sagt Professor Nino Künzli, Experte für Gesundheitsrisiken durch Luftschadstoffe und Vizedirektor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts gegenüber dem Deutschlandfunk .

Werden die Grenzwerte regelmäßig überprüft?

Ja. Derzeit werden die bestehenden Regeln von der EU-Kommission einem "Fitness-Check" unterzogen. Dort wird überprüft, ob die Richtlinien so formuliert sind, dass die gesetzten politischen Ziele erreicht werden. Dieser Prozess dauert zwei Jahre und wird Ende 2019 mit einer Bewertung enden. Sollten dann Änderungen notwendig sein, etwa mit Blick auf den Gesundheitsschutz, würde ein Überprüfungsprozess beginnen, bei dem die Ergebnisse des Fitness-Checks berücksichtigt würden. Eine Überprüfung hatte auch Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in einem Brief an die EU gefordert. Dessen Ergebnis dürfte Scheuer aber vermutlich nicht freuen: EU-Umweltkommissar Karmenu Vella stellte in Aussicht, dass die Grenzwerte höchstens "nur strenger" würden.

Zusätzlich überprüft auch die WHO regelmäßig ihre Richtwert-Empfehlungen. Bereits 2013 wurde aufgrund neuer Erkenntnisse aus 15 Langzeitstudien  im Auftrag der EU eine aktualisierte Analyse der Studienlage von der WHO durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass es bereits ab einem Wert von 20 Mikrogramm Stickstoffdioxid zu Gesundheitseffekten kommen kann . Aktuell überarbeitet die WHO ihre Richtlinien zur Luftreinhaltung daher erneut. Wenn dieser Prozess Ende 2019 abgeschlossen ist, rechnen Umweltexperten damit, dass die WHO der EU-Kommission ebenfalls einen strengeren Richtwert vorschlagen wird.

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Wie wird die Wirkung von Luftschadstoffen auf den Körper untersucht?

Die Wirkung wird durch Experimente an Zellen, durch Tierversuche und die kontrollierte Exposition von freiwilligen Probanden untersucht. Hinzu kommen sogenannte epidemiologische Beobachtungsstudien, die den Zusammenhang zwischen der Aussetzung von Schadstoffen und den Auswirkungen auf den Körper untersuchen.

Wie werden aus Empfehlungen der Wissenschaftler Grenzwerte?

Die tatsächliche Festlegung von Grenzwerten ist ein politischer Prozess unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Empfehlungen der WHO. In der EU werden die Grenzwerte durch das EU-Parlament verabschiedet und in nationales Recht umgesetzt. So wurde im Jahr 1999 die Empfehlung der WHO für den Langzeitgrenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft übernommen und seitdem regelmäßig überprüft. Die Schweiz hingegen hat sogar einen strengeren Grenzwert von 30 Mikrogramm gesetzlich verankert. Auch Österreich ist mit 35 Mikrogramm deutlich strenger als von der WHO empfohlen.

Für Feinstaub hat die EU hingegen einen deutlich laxeren Grenzwert von 25 Mikrogramm umgesetzt, statt des von der WHO empfohlenen Grenzwertes von 10 Mikrogramm. Wissenschaftler halten den Feinstaub noch für deutlich gesundheitsschädlicher als die Stickoxide.

Rechtfertig die aktuelle Stellungnahme von rund 100 Lungenärzten eine Neubewertung der Grenzwerte?

"Die Stellungnahme der Lungenärzte ist keine wissenschaftliche Studie, die auf neuen wissenschaftlichen Analysen und Daten beruht, sondern zunächst eine Erklärung einzelner Ärzte, Therapeuten und Ingenieure", heißt es beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU). Einen nennenswerten fachlichen Streit über die Schädlichkeit von Stickstoffdioxid gebe es laut der Meinung zahlreicher Fachleute für Epidemiologie und Umweltmedizin nicht. Hinzu kommt, dass eine Neubewertung der Grenzwerte regelmäßig - so auch gegenwärtig - durch die EU-Kommission stattfindet.

Warum sind die Grenzwerte für Stickstoffdioxid in den USA mehr als doppelt so hoch?

Tatsächlich ist der Grenzwert für Stickstoffdioxid in den USA mit 100 Mikrogramm pro Kubikmeter weniger streng als in der EU mit 40 Mikrogramm. Die Amerikaner haben allerdings deutlich striktere Regeln bei der Emission, also der Menge von Stickoxiden, die vom Fahrzeug ausgestoßen werden. Sie regulieren direkt an der Quelle deutlich schärfer, weshalb für deutsche Autos in Amerika eine spezielle Nachrüstung erforderlich ist. Während in der EU zurzeit 270 Milligramm pro Kilometer Stickstoffoxide in der höchsten Schadstoffklasse ausgestoßen werden dürfen, liegt die höchste Schadstoffklasse in den USA bei 100 Milligramm. Die EU berücksichtigt also eher die Schadstoffkonzentration, die man tatsächlich einatmet.

Woher kommen Stickstoffdioxid und Feinstaub?

Stickstoffdioxide entstehen bei Verbrennungsprozessen. Die Hauptquellen von Stickstoffoxiden sind Verbrennungsmotoren und Feuerungsanlagen für Kohle, Öl, Gas, Holz und Abfälle zur Strom- und Wärmeproduktion. Laut dem Umweltbundesamt (UBA) ist in Ballungsgebieten der Straßenverkehr die bedeutendste Quelle  für Stickstoffoxide.

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Foto: Christopher Furlong/ Getty Images

Feinstaub wiederum besteht aus kleinsten Partikeln, die durch Pkw in Form von Rußpartikeln, Staub aus Reifen-, Kupplungs- und Bremsenabrieb vorkommen. Auch Kraft- und Heizwerke, Öfen und Heizungen in Wohnhäusern, sowie Industrieanlagen und die Landwirtschaft erzeugen Feinstaub.

Warum gelten am Arbeitsplatz höhere Grenzwerte als im Straßenverkehr?

Der Arbeitsplatz-Grenzwert an Industriearbeitsplätzen und im Handwerk, bei denen im Umgang mit bestimmten Arbeitsstoffen eine erhöhte NO2-Belastung zu erwarten ist, ist mit 950 Mikrogramm je Kubikmeter wesentlich höher. Dafür gibt es auch Gründe: Denn der Arbeitsplatz-Grenzwert gilt für die zeitlich begrenzte Belastung gesunder Menschen. Durch Stickstoffdioxid in der Außenluft und im Straßenverkehr sind hingegen auch empfindliche Personen wie Kinder, chronisch Kranke, ältere Personen betroffen, die durch den niedrigen Grenzwert geschützt werden sollen. Einige sind dem Schadstoff zudem rund um die Uhr ausgesetzt, weil sie zum Beispiel an einer vielbefahrenen Straße wohnen. Für Büroarbeitsplätze sowie Privaträume gilt ein Grenzwert von 60 Mikrogramm .

Sind Raucher nicht viel stärkeren Belastungen ausgesetzt als Menschen im Straßenverkehr?

Punktuell sind Raucher höheren Belastungen ausgesetzt. Allerdings ist das Belastungsmuster anders: Rauchen führt zu hohen Belastungen mit Pausen zwischen den Zigaretten. Luftverschmutzung im Straßenverkehr wirkt dagegen kontinuierlich den ganzen Tag und das ganze Jahr über ohne Unterbrechung. Zudem belastet Rauchen in erster Linie erwachsene Menschen. Luftverschmutzung wirkt auch auf Ungeborene, Säuglinge, Kinder mit Asthma und alte Menschen. Und diese können - anders als Raucher - nicht selbst entscheiden, ob sie sich einer Belastung aussetzen wollen oder nicht. Denn den Emissionen in der Außenluft kann man nicht aus dem Weg gehen.

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