
Nächtliches Fahrradrennen: Schlaflos im Sattel
MTB-Rennen "Schlaflos im Sattel" "Warmduscher bekommen keine Startnummern"
SPIEGEL ONLINE: Wie sind Sie um Gottes willen auf die Idee für "Schlaflos im Sattel" gekommen?
Christian Krämer: In einem Mountainbike-Forum gab es ein paar Leute, die waren sehr locker und sehr direkt. Die hatten nichts zu tun mit Doping oder diesen Sportlerdeppen, die nur nach ihrem Trainingsplan leben. Ich hatte gerade die Singlespeed-WM in Berlin organisiert und fand, so ein Rennen sei eine gute Gelegenheit, diesen Leuten einmal im Jahr einen Grund zu geben, sich zu treffen.
SPIEGEL ONLINE: Wie wird das Rennen organisiert?
Krämer: SIS ist ein Internetphänomen. Es vereint eine Gruppe unglaublich kreativer Mountainbiker. Die Leute arbeiten auf meinen Zuruf - meist per E-Mail. Der eine entwirft Trikots, der andere macht den Streckenposten. SIS speist sich aus dieser Community, den Vereinen und der Feuerwehr in Weidenthal.
SPIEGEL ONLINE: Unterscheidet sich SIS von herkömmlichen Mountainbike-Rennens?
Krämer: Wir haben keine Stars. Leute mit rasierten Beinen werden bei uns ausgelacht, und im Versorgungszelt gibt es Saumagen und Nutellabrötchen. Siegen ist bei SIS nebensächlich, wir feiern den, der Letzter wird.
SPIEGEL ONLINE: Also ist SIS eine große Party?
Krämer: Das ist zu platt. SIS passt in keine Kategorie. Bei uns fahren Chefärzte, FDP-Wähler, Maschinenschlosser und Fleischereifachverkäuferinnen. Die singen am Freitagabend mit der Hardrock-Band "Schlammbein" die neue SIS-Hymne, fiebern am nächsten Tag für ihre Kinder beim Kinderrennen, und manche fahren anschließend noch eine Runde mit beim Singlespeed-Rennen.
SPIEGEL ONLINE: Was für Leute nehmen am SIS teil?
Krämer: Skurrile. Die Außenwirkung ist oft ein bisschen bäh: eben fette Kerle in Frauenkleider. Dabei ist es ein Riesenspaß. Der eine trägt Gummistiefel, der andere fährt Einrad, und ein Frauenteam montiert sich Barbies auf den Vorbau.
SPIEGEL ONLINE: Verhalten die sich auch so skurril, wie sie aussehen?
Krämer: Manche trinken beim Streckenposten Kaffee oder Bier und fahren dann auch nicht mehr weiter.
SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht etwas wenig sportlicher Ehrgeiz?
Krämer: Wettkampfstimmung herrscht schon. Die Mehrzahl unserer Teilnehmer fährt extrem schnell. Ein 18-Jähriger hat die zwölf Kilometer lange Strecke in 26 Minuten geschafft. Aber auf der Strecke gilt: bei Blaulicht den Weg freimachen. Beim Überholen niemanden aus dem Weg brüllen, und wenn jemand stürzt, steigt der Nachfolger ab und hilft.
SPIEGEL ONLINE: Halten sich alle an die Regeln?
Krämer: Die meisten schon. Sie kommen zu SIS, weil ihnen der Leistungsgedanke bei anderen Rennen nicht passt.
SPIEGEL ONLINE: Könnte das auch an Ihnen liegen?
Krämer: Weil ich groß, laut und dick bin, einen Kilt trage und meinen Bart orange färbe? Bestimmt. Mauler nehme ich schon mal in den Schwitzkasten, zwischen meinen Beinen. Trotzdem meckert immer jemand.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Krämer: Im ersten Jahr hat es geregnet, und wir hatten vier Grad. Da fragte mich einer nach dem Wärmezelt (lacht). Einem Wärmezelt! Ein anderer hat sich beschwert, weil ein Zehnjähriger mit seinem Vater durch den dunklen Wald fuhr, und er deshalb langsamer radeln musste. Der und der andere Warmduscher haben im Folgejahr keine Startnummern mehr bekommen.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Teilnehmer starten denn beim Rennen?
Krämer: In diesem Jahr waren die 500 Plätze innerhalb von fünf Stunden weg, 842 wollten mitfahren.
SPIEGEL ONLINE: Wie vergeben Sie die Startnummern?
Krämer: Eigentlich nach Eingang. Aber es gibt ein paar Leute, die gehören einfach zu SIS. Wie mein Leipziger Ostblock. Das sind ein paar Punks, die es jedes Jahr verpeilen, sich rechtzeitig anzumelden. Für die habe ich Startnummern reserviert.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie auch mal eine Runde gefahren?
Krämer: Nein, ich bin zu dick und zu langsam. Aber 2013 ist es soweit. Da fahre ich eine Runde.
SPIEGEL ONLINE: Charakterisieren Sie doch mal die Strecke.
Krämer: Der Höhenunterschied beträgt 220 Meter. Wir fahren auf normalen Waldwegen plus einiger Singletrails mit einem knackigen Downhill am Ende. Die große Herausforderung ist die Dunkelheit. Ohne Federgabel wird man ziemlich durchgeschüttelt. Die meisten fahren trotzdem mit starrer Gabel. Das hat Kultstatus.
SPIEGEL ONLINE: Warum machen Sie beim Rennen Witze über die Teilnehmer und beschimpfen sie grundlos.
Krämer: (Lacht) Ja, manche wollen nicht gewinnen, weil sie Angst vor meinen Sprüchen bei der Siegerehrung haben. Ich bin der Diktator bei SIS. Das sorgt für einen reibungslosen Ablauf, an mir traut sich niemand vorbei.
SPIEGEL ONLINE: Was halten die Bewohner Weidenthals vom SIS?
Krämer: Die finden es gut. Die Weidenthaler sind echt klasse. Nachts um drei Uhr stehen Omis und Opis an der Strecke, rasseln die Fahrer durch und grillen Würstchen für sie.
SPIEGEL ONLINE: Dafür bedanken sich die SIS-Teilnehmer jedes Jahr mit einem Waldtag.
Krämer: Genau. Im vergangenen Jahr haben wir mit 30 Leuten und ein paar Soldaten von der US-Armee einen verwachsenen Waldweg freigelegt. Dieses Mal räumen wir den Sportplatz auf.
SPIEGEL ONLINE: Seit Januar bereiten Sie SIS vor, was machen Sie, wenn das Rennen vorbei ist?
Krämer: Erst falle ich in ein ganz tiefes Loch. Anschließend werde ich wieder zum Qualitätsverantwortlichen und Konfliktmoderator bei Bosch.