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Neue E-Klasse: Zu schlau für unsere Straßen

Foto: Daimler

Neue E-Klasse Schlauer, als die Polizei erlaubt

Es ist eine kuriose Situation: Die Industrie arbeitet mit Hochdruck am selbst fahrenden Auto - und hat die Gesetzgebung überholt. Die neue E-Klasse von Mercedes zeigt, was Fahrzeuge heute können. Nämlich mehr, als sie dürfen.

Michael Kelz liegt fast im Auto. Die Lehne des Fahrersitzes ist weit nach hinten gekippt, seine Hände hat er im Schoß abgelegt und die Knie so stark angewinkelt, dass sie links und rechts des Lenkrads in den Raum ragen. Vom Chefingenieur der kommenden Mercedes E-Klasse hätte man sich bei einer der letzten Testfahrten vor der Weltpremiere in Detroit mehr Engagement erhofft.

Andererseits: Kein Wunder. Obwohl Kelz hinter dem Steuer sitzt, ist er auf der Fahrt von Los Angeles nach Las Vegas eigentlich doch nur Passagier. Das Fahren erledigt der neue Drive Pilot, in dem alle autonomen Fahrfunktionen gebündelt wurden. Seit der umfassend mit Tarnfolie beklebte Erlkönig die Stadt verlassen hat, folgt er selbst bei hoher Geschwindigkeit seiner Spur. Und zwar egal, ob auf dem Asphalt nun Fahrbahnmarkierungen zu sehen sind oder ob er sich einfach am Vordermann orientiert.

Er bremst bei Tempolimits selbstständig ab und beschleunigt danach wieder auf die vorgewählte Geschwindigkeit und lässt sich selbst von Kurven nicht aus der Ruhe bringen. "In Haarnadelkurven, Autobahnkreuzen oder Ausfahrten muss zwar der Fahrer kurz mal eingreifen. Aber alles, was der normale Autofahralltag sonst so mit sich bringt, schafft die E-Klasse künftig alleine", sagt Kelz. Auch ist sie noch aufmerksamer geworden. Die neue E-Klasse bremst nicht nur für Fußgänger, sondern weicht auch automatisch anderen Fahrzeugen aus, wenn der Fahrer ins Lenkrad greift und eine Ausweichrichtung vorgibt.

Ein Fingerzeig reicht

Selbst von den auf der Interstate allgegenwärtigen Trucks lässt sich der Prototyp nicht ausbremsen. Nur den Blinker angetippt, schon sucht sich die E-Klasse eine ausreichend große Lücke, wechselt die Spur und zieht am vorausfahrenden Lastwagen vorbei. Und sobald Kelz wieder zum Blinker fasst, erledigt der Drive Pilot den Wechsel auf die ursprüngliche Fahrbahn. Das klingt spektakulär und ist auf den ersten Meilen auch für die Mitfahrer ziemlich aufregend. Doch mit jedem erfolgreichen Manöver wächst das Vertrauen. Im Auto macht sich eine ungewohnte Entspannung breit, wie man sie sich bisweilen auch auf der deutschen Autobahn wünschen würde.

Kelz kann deshalb meilenweit untätig bleiben und sich minutenlang mit anderen Dingen beschäftigen. Oder besser könnte. Denn sein Auto ist schlauer als die Polizei erlaubt. Wenn seine Ausnahmegenehmigung für die Entwicklungsfahrten erst einmal abgelaufen ist und er nach Regeln fährt wie jeder andere, sind solche freihändigen Fahrten deshalb strikt verboten, räumt er ein. Weil die Politik noch nicht so weit ist wie die Technik, können oder vielmehr dürfen die Entwickler den Fahrer noch nicht aus der Pflicht lassen: "Wir sprechen deshalb auch nur von Entlastung und Unterstützung", wiederholt Kelz, als wäre es ein Mantra und beißt sich jedes Mal fast auf die Zunge, wenn ihm doch wieder das Wort "autonom" herausrutscht.

Bis der Fahrer auf dem Weg von Los Angeles nach Las Vegas oder von Hamburg nach Köln nicht nur den SPIEGEL lesen oder seine E-Mails machen könne, sondern tatsächlich dürfe, werde es deshalb auch in der E-Klasse noch ein wenig dauern, räumt er ein. Alles, was Kelz auf der Testfahrt demonstriert, wird die E-Klasse auch in Kundenhand können. Es bleibt dem Fahrer überlassen, wie er diese Funktionen nutzt und wie aufmerksam er dabei bleibt. Denn auch wenn die Maschine selbstständig fährt: Das Risiko und die Verantwortung trägt der Mensch.

Neueste Hardware, hohe Flexibilität

In der Bedienungsanleitung wird es deswegen eindeutige Hinweise geben, dass man die Hände am Lenkrad zu lassen und beim Überholen über die Schulter zu blicken habe, sagt Kelz. Doch die neue E-Klasse fordert diese Aufmerksamkeit deutlich weniger vehement ein als noch der Vorgänger. Im Cockpit leuchtet nach ein paar Sekunden freihändiger Fahrt erst ein Warnsymbol auf. Reagiert der Fahrer darauf nicht, erklingt ein Warnton. Bleibt er immer noch untätig, bremst das Fahrzeug bis zum Stillstand. Der Witz: Muss man bei aktuellen Systemen noch fest ums Lenkrad greifen, um das Auto zu beruhigen, reicht es bei der neuen E-Klasse, eines der Knöpfchen am Lenkrad zu drücken oder über die neuen Sensortasten zu streichen, die Mercedes sich bei den Smartphones von Blackberry abgeschaut hat. "Dann hat man wieder ein wenig Zeit gewonnen", sagt Kelz.

Der Funktionsumfang in Sachen autonomes Fahren ist übrigens fast ein Last-Minute Angebot. Zwar hat sich Mercedes gleich zu Beginn der Baureihenentwicklung vor vier Jahren entschieden, für den Drive Pilot die Rechenleistung der E-Klasse zu verdoppeln, scharfsinnigere Kamera- und Radarsensoren als in der aktuellen S-Klasse einzubauen und den Datenverkehr im Auto von einem CAN-Bus auf ein zehnmal schnelleres Flexray-System umzustellen. So ist die E-Klasse Hardware-seitig für alle Eventualitäten gewappnet, denn wie flexibel solche Systeme künftig sein müssen, hat sich die E-Klasse selbst vorgemacht.

Überzeugungsarbeit ist nötig

Denn die bislang finale Entscheidung darüber, in welchem Geschwindigkeitsbereich der Drive Pilot funktioniert (0 bis 210 km/h), bei welchem Tempo die E-Klasse fast allein überholt (75 bis 180 km/h) und wie lange das System aktiv bleibt, wenn der Wagen, zum Beispiel im Stop-and-Go erst einmal steht und danach wieder anfahren muss (3 Sekunden), die wurde erst vor drei Monaten gefällt und dann als Update auf die Steuerchips der Prototypen aufgespielt. "Und womöglich passen wir das bis zur Auslieferung sogar noch einmal an", sagt Kelz und erzählt, wie die neuen E-Klassen quasi kurz vor dem Werkstor alle noch einmal "geflasht" werden.

Während seine Kollegen mit der E-Klasse das konventionelle Erprobungsprogramm vorantreiben, durch Wüstenhitze und Eiseskälte fahren und ganz händisch durch Slalomgassen wedeln oder über Schleuderkurse kreiseln, wird Kelz in den nächsten Wochen noch öfter mit dem Drive Pilot über Highways und Autobahnen fahren müssen. Auf dem Sessel rechts von ihm werden dann Politiker und Beamte sitzen und er wird in den unterschiedlichsten Sprachen viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit die Kunden die neue Freiheit auch genießen dürften. Denn der Autopilot hat bislang nur für Deutschland und Amerika eine Zulassung.

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