
Fahrradhelm: Mit oder ohne?
Pedalritter Helm auf oder Helm ab?
Christian Wöhrl fährt nur noch ohne. Der Journalist, der in einem Dorf nahe Hamburg wohnt, verzichtet auf einen Fahrradhelm - selbst wenn er mit Rennrad oder Mountainbike die Alpen überquert. "Ich fahre lieber etwas defensiver und mache Werbung fürs Radfahren, statt seine vermeintliche Gefährlichkeit zu promoten", sagt er.
Früher trug er regelmäßig den Kopfschutz aus Styropor, fand ihn jedoch "unkomfortabel, weil schweißtreibend". Nachdem er sich aber intensiver mit den Argumenten für und gegen den Helm beschäftigt hatte, war die Entscheidung klar: ab sofort ohne.
Damit steht Wöhrl nicht allein. Im ADFC, der Lobbyorganisation der Radfahrer, gibt es viele Helmgegner. "Wenn wir ein Foto von einem Radler mit Helm in unserer Zeitschrift 'Radwelt' drucken, dann gibt es Beschwerden", sagt ADFC-Sprecherin Bettina Cibulski. Das Thema Helm sei unter den Mitgliedern sehr umstritten.
Das überrascht. Warum soll man seinen Schädel nicht schützen, wenn dieser bei einem Unfall mit voller Wucht auf den harten Asphalt knallen kann? 80.000 bis 90.000 Radler verunglücken jährlich auf deutschen Straßen. 2008 starben 456 Radler. Wie viele der Verunglückten einen Helm getragen haben und welche Rolle Kopfverletzungen bei den tödlich Verletzten gespielt haben, weiß allerdings niemand genau. Diese Daten werden von der Polizei bei der Unfallaufnahme routinemäßig nicht erfasst - und damit ist man schon mittendrin im Datenwirrwarr zum Thema Fahrradhelm.
Als Lebensretter umstritten
Fest steht, dass die Helmquote unter deutschen Radlern steigt. 2002 lag sie bei fünf Prozent, für 2008 hat die Bundesanstalt für Straßenwesen zehn Prozent ermittelt. Die Zahl der getöteten Radfahrer ist im selben Zeitraum zurückgegangen, insbesondere im Verhältnis zu den insgesamt verunglückten Radfahrern. Immer weniger Radunfälle enden also tödlich - das könnte auch mit der steigenden Helmquote zusammenhängen. Doch den Trend zu weniger tödlichen Unfällen gibt es bereits viel länger, als Helme unter Radfahrern üblich sind. Als alleinige Erklärung scheidet der Kopfschutz somit aus.
Auf der Website cyclehelmets.org erklären Helmskeptiker, darunter diverse Professoren, warum die Kopfbedeckung weniger schütze, als viele glauben. Nach Aussagen der Bicycle Helmet Research Foundation, welche die Website betreibt, ist nicht einmal bewiesen, dass das Tragen eines Fahrradhelms Leben rettet. Studien dazu lieferten widersprüchliche Ergebnisse und hätten zudem methodische Schwächen, etwa viel zu geringe Fallzahlen.
Eine wissenschaftliche Untersuchung zum Tragen eines Helms ist in der Tat schwierig. Statistiken sind nie vollständig. Wer beispielsweise mit Helm auf den Boden kracht und den Sturz ohne Blessuren übersteht, kauft sich wahrscheinlich einen neuen Helm, geht aber nicht zum Arzt - und wird in Studien so nicht erfasst.
Hinzu kommt das, was Psychologen als Risikokompensation bezeichnen. Wer sich in Sicherheit wähnt, riskiert mehr und handelt rücksichtslos. Der Helm könnte Radfahrer dazu verleiten, weniger vorsichtig zu fahren. Derartige Effekte kennen Unfallforscher aus dem Autoverkehr: Auf einer begradigten Landstraße wird wesentlich mehr gerast.
An Helmträgern knapper vorbei brausen
Das eigene Verhalten ist zudem nicht der einzige relevante Faktor. Radfahrer mit Helm leben gefährlicher, weil Autofahrer geringeren Abstand zu ihnen halten, wie der britische Verkehrspsychologe Ian Walker herausgefunden hat. Mit und ohne Helm fuhr er auf einem mit Ultraschallentfernungsmesser ausgestatteten Fahrrad herum und ließ Autos an sich vorbeiziehen. Das verblüffende Ergebnis: Autos kommen Radfahrern mit Helm im Durchschnitt 8,5 Zentimeter näher als solchen ohne Kopfschutz.
Viele Mediziner propagieren trotzdem das Tragen des Kopfschutzes. "Der Fahrradhelm verhindert bis zu 80 Prozent der Schädelbrüche und Gehirnblutungen", sagt etwa Professor Hans Zwipp von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.
Carl Haasper von der Medizinischen Hochschule Hannover sieht das ganz ähnlich. Haasper und seine Kollegen haben in einer 2008 publizierten Studie Daten von 14.834 Unfällen genutzt. Unter den Unfallbeteiligen waren auch 3525 Radfahrer, von denen 269 einen Helm trugen (7,6 Prozent). Die Forscher verglichen, wie oft welche Verletzungen bei Verunglückten mit und ohne Helm auftraten. 27,3 Prozent der Radfahrer mit Helm wiesen Kopfverletzungen auf. Bei denen, die ohne Helm verunglückten, waren 38,7 Prozent am Kopf verletzt. Klare Unterschiede gab es auch beim Verletzungsgrad: Mit Helm wurden die schwersten Kopfverletzungen um 67 Prozent verringert.
Sind Helmträger die besseren Radfahrer?
Carmen Hagemeister, Psychologin an der TU Dresden und ADFC-Mitglied, hält die Aussagekraft derartiger Studien für begrenzt. "Noch ist unzureichend untersucht, wie sich Personen, die freiwillig einen Helm tragen, von Personen unterscheiden, die dies nicht tun", sagt sie. "Sind diese Menschen vorsichtiger, halten sich also an die Regeln? Fahren sie nicht betrunken Rad, haben sie ein ordentliches Licht am Rad?" Dies werde in den medizinischen Analysen nicht kontrolliert, man könne es aber annehmen.
Wenn sich Helmträger weniger schwer verletzen, dann könnte das also auch daran liegen, dass diese Radfahrer sich insgesamt viel mehr um ihre Sicherheit kümmern. Der Helm wäre dann das letzte Glied in einer langen Kette von Vorsichtsmaßnahmen wie funktionierendem Licht und defensivem Fahrstil.
Gewissheit über den Nutzen des Tragen eines Helms könnte nach ihrer Meinung nur eine aufwendige Studie bringen. "Man müsste Tausende Personen zufällig auf zwei Gruppen aufteilen, die mit und ohne Fahrradhelm jahrelang im Straßenverkehr unterwegs sind." Zu untersuchen wären dann auch diverse Indikatoren von Risikokompensation, also Beobachtungen zum Fahrverhalten, Befragungen zum Fahren unter Alkohol oder zu Fahrradinspektionen.
"Der Helm schützt"
Unfallforscher Haasper will die Einwände nicht gelten lassen: "Es gibt eindeutige Daten in der Literatur, dass der Helm schützt." Zugegebenermaßen seien die Arbeiten alle methodisch angreifbar. "Dies gilt aber aus meiner persönlichen Sicht besonders für die Arbeiten zum negativen Effekt des Helms", meint Haasper. Radfahrer seien ungeschützte Verkehrsteilnehmer und hätten zweifelsfrei ein erhöhtes Risiko. "Ich denke, dass man aufklären muss, dass der Helm im Falle eines Sturzes eher nützt als schadet."
Christian Wöhrl, der aus Überzeugung ohne Helm die Alpen erklimmt, wird das wohl auch auf absehbare Zeit weiter tun können. Eine Helmpflicht in Deutschland ist nicht in Sicht. Denn die könnte, so die Befürchtung praktisch aller Fachleute,dazu führen, dass weniger Menschen Rad fahren und somit nichts mehr für ihre Gesundheit und die Umwelt tun.
Selbst Unfallforscher lehnen eine Helmpflicht ab. "Aufgrund meiner liberalen Grundhaltung bin ich für Aufklärung", sagt Mediziner Haasper. "Das Tragen sollte zumindest dem mündigen Bürger frei stehen. Bei Kindern sollte eine öffentliche Diskussion geführt werden, wie sehr wir unseren Nachwuchs schützen wollen."
Christian Wöhrl hat auch diese Diskussion für sich schon geführt. Sobald seine Kinder sicher fahren konnten, erlaubte er ihnen etwa auf Waldwegen, den Helm wegzulassen. Nur in der Stadt müssen die Kleinen den Kopfschutz tragen.