
Pfusch im Autobau: Die größten Rückruf-Aktionen
Qualitätsprobleme Neuer Rekord bei Rückrufen
Das Jahr 2014 war noch keine Woche alt, da hatten bereits drei Hersteller Rückrufaktionen für insgesamt 32.431 Fahrzeuge gestartet: Volvo, Land Rover und Aston Martin. Eine Woche später kamen rund 1,9 Millionen Toyota Prius hinzu - wegen eines Software-Fehlers. Im Februar folgten 785 Porsche 911 GT3, die zurückgerufen wurden. Zwei dieser mindestens 112.000 Euro teuren Sportwagen waren aufgrund einer fehlerhaften Pleuel-Verschraubung in Flammen aufgegangen. Danach waren es 4,2 Millionen Modelle von GM, 886.000 von Honda, 990.000 von Nissan, 868.000 von Chrysler, 6,6 Millionen von Toyota und 489.000 von BMW - die Aufzählung ist sicher nicht vollständig, und natürlich werden die sogenannten stillen Rückrufe gar nicht erst erfasst. So heißen Reparaturaktionen, die der Hersteller ohne großes Aufsehen während der vorgesehenen Werkstattaufenthalte gleich miterledigen lässt.
"Es spricht vieles dafür, dass 2014 ein weiteres Rekordjahr in Sachen Rückrufe wird", sagt Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach. Seit Jahren untersucht Bratzel das Rückrufaufkommen der großen Autokonzerne in den USA, weil "der US-Markt aufgrund seiner Absatzgröße, der relativ scharfen Sicherheitsrichtlinien und vor allem des hohen Klagerisikos ein aussagekräftiger Indikator für die Produktqualität der Autohersteller ist".
Für das vergangene Jahr registrierte Bratzel in den USA mehr als 20,5 Millionen zurückgerufene Pkw, was einer Rückrufquote von 131 Prozent entspricht. 131 Prozent? Die Zahl ist korrekt, denn sie beschreibt, dass die Hersteller 2013 in den USA im Schnitt 31 Prozent mehr Fahrzeuge zurückrufen mussten, als sie an Neuwagen ausgeliefert haben. "Diese Marke wird in diesem Jahr höchstwahrscheinlich deutlich überschritten", sagt Bratzel.
Hyundai-Kia mit der höchsten Rückrufquote in den USA
Die Konzerne mit den höchsten Quoten lagen sogar deutlich über dem ohnehin schon besorgniserregenden Mittelwert. Hyundai-Kia kam 2013 in den USA auf eine Rückrufquote von 262 Prozent, Fiat-Chrysler auf 258 Prozent, Toyota auf 237 Prozent, BMW auf 233 Prozent und Honda auf 182 Prozent. Beim deutschen Hersteller BMW beispielsweise handelte es sich um exakt 877.922 Fahrzeuge, die unter anderem wegen Elektronikproblemen zurück in die Werkstätten beordert wurden.
Herbert Diess, der Entwicklungschef des Münchner Autobauers, räumte gegenüber der Branchenzeitung "Automobilwoche" ein, im vergangenen Jahr sei bei BMW "nicht die Zahl der Rückrufe, sondern die Zahl der betroffenen Fahrzeuge gestiegen". Der Grund dafür ist die grassierende Gleichteile- und Modulstrategie, mit der die Autohersteller Synergieeffekte erzielen, Kosten sparen und immer neue Modellvarianten in immer schnellerer Folge auf den Markt bringen wollen. VW-Konzernchef Martin Winterkorn sagte erst vor wenigen Wochen auf dem Autosalon in Genf, man müsse "darüber nachdenken, ob die üblichen Modellzyklen von sieben bis acht Jahren nicht deutlich kürzer werden müssen".
Immenser Schaden durch Millionen-Rückrufe
Noch schneller, noch vielfältiger, noch kostengünstiger - für die Qualität der Autos sind diese Entwicklungsziele sicher nicht von Vorteil. BMW beispielsweise plant, die Zahl der Fahrzeuge pro Plattform bis zum Jahr 2019 zu verdoppeln. Wird dann ein fehlerhaftes Teil eingebaut, könnte sich auch die Zahl der Autos, die zurückgerufen werden müssen, verdoppeln. Bei VW ist das Ziel, die Zahl der Fahrzeuge pro Baukastensystem sogar zu verdreifachen. Geht da etwas schief, wird ein Massenrückruf unausweichlich.
Das hat möglicherweise verheerende Folgen. Autoanalyst Koji Endo erklärte dem Nachrichtendienst Bloomberg, der jüngste Toyota-Rückruf von knapp 6,6 Millionen Fahrzeugen wegen wackeliger Sitzschienen und fehlerhafter Lenksäulen koste mindestens 600 Millionen US-Dollar - den Imageschaden gar nicht mitgerechnet. Ob die durch Modul- und Baukastenstrategien erzielten Einsparungen durch die Kosten für gigantische Rückrufe wieder aufgezehrt werden, ist bislang nicht belegt - scheint aber zumindest denkbar.
Nur ein Bauteil, aber das in sehr vielen Modellvarianten
"Die Gleichteilestrategie sollte eigentlich auch das Risiko von Rückrufen beherrschbarer machen, da die Autoindustrie gehofft hat, die geringere Anzahl von Teilen qualitativ besser absichern zu können. Das jedoch war ein Irrtum", sagt Fabian Brandt, Autoexperte der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Viele Probleme träten nämlich erst dadurch auf, dass ein Bauteil nun in viel mehr Kombinationen als früher eingesetzt werde.
Kann man diesem Problem Herr werden? Brandt hält das für möglich. "Bislang ist die Qualitätssicherung vielfach reaktiv ausgelegt", sagt er. Ein Auto werde fertig entwickelt und dann ausgiebig getestet. Wenn dabei nichts Negatives auffällt, startet die Produktion. Dieses System kommt allerdings bei der steigenden Zahl an Typen und Modellvarianten an seine Grenzen. Brandt: "Künftig muss Qualitätssicherung noch viel stärker präventiv in den Entwicklungsprozess integriert werden."
Fünf Ursachen für steigende Rückrufzahlen
Automobilexperte Bratzel hält die Zunahme der Rückrufe nicht für Zufall. Es gebe fünf wesentliche Ursachen für die Qualitätsprobleme, sagt er:
- Die steigende technische Komplexität der Fahrzeuge, die beispielsweise die Sicherheit erhöhen, parallel dazu aber auch zur Fehleranfälligkeit beitragen.
- Die zunehmende Entwicklungsgeschwindigkeit, um sich Vorteile im globalen Wettbewerb zu verschaffen. Allerdings steigt mit dem Zeitdruck auf die Ingenieure auch das Fehlerrisiko.
- Die zunehmende Verlagerung von Entwicklungs- und Herstellungsprozessen zu den Zulieferern, die aktuell für etwa 75 Prozent der automobilen Wertschöpfung verantwortlich sind. Allerdings funktioniert die gleichzeitige Verlagerung des Qualitätsmanagements auf die Zulieferbetriebe und deren ebenfalls weltweit verteilte Produktion nicht immer reibungslos.
- Der erhöhte Kostendruck, der auf Herstellern und Zulieferern und auch wiederum deren Lieferanten lastet und auf Kosten der Qualität gehen könnte.
- Die Gleichteile- und Baukastenstrategie, die für die Hersteller erhebliche Einsparungen bedeuten kann, die zugleich aber die Gefahr besonders großer und damit teurer Rückrufaktionen birgt, wie einige der jüngsten Beispiele zeigen.
Wird also die Zahl der Rückrufe immer weiter steigen? Lässt sich die Spirale angesichts aggressiver Wachstumsziele überhaupt umkehren? Durchaus, sagt Bratzel. Doch die Eigendynamik von Absatzerfolgen und noch höheren Zielen "benötigt starke Qualitätsmanagementsysteme und entsprechend starke Persönlichkeiten, die dafür Verantwortung tragen". Bis dahin scheint es noch ein weiter Weg. Brancheninteressierte kennen fast alle Vorstandschefs, Entwicklungsvorstände oder Chefdesigner der Autokonzerne - aber nicht einen Qualitätsverantwortlichen.