
60 Jahre mobiler Blitzer "Und dann wurden wir auf die Menschheit losgelassen"
Heinz Scholze sitzt auf einem wackeligen Holzstuhl im Fond eines angerosteten VW Bulli von 1953. Vor ihm ein kleiner hölzerner Schreibtisch auf dem wuchtige Geräte mit Reglern und Anzeigen stehen. Daneben liegt ein Notizblock und ein Stift. Eine kleine Schreibtischlampe spendet etwas Licht. Scholze dreht an den Reglern und schaut sich um. "Alles noch genau wie damals", sagt er und lacht. Vor sechs Jahrzehnten war das einmal sein Arbeitsplatz. Denn Scholze war einer der ersten Beamten Deutschlands, der mit einem mobilen Blitzer Jagd auf Raser machte.
Denn vor 60 Jahren machten Scholzes Kollegen aus Nordrhein-Westfalen die erste offizielle Radarmessung auf einer Straße zwischen Düsseldorf und Ratingen. Kurze Zeit später saß auch er in einem VW-Bus und nutzte die neuartige Technik um Temposünder zu überführen.
Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erzählt der heute 89-Jährige, wie er die Anfänge des Blitzers erlebt hat. Wir trafen den "Schutzmann", wie er sich selbst bezeichnet, am Rande einer Veranstaltung, bei der eines der ersten Blitzer-Fahrzeuge auf Basis eines VW Bus gezeigt wurde. Darin schob der Hauptkommissar a.D. einst für anfangs 270 Mark monatlich seine "Radar-Schichten".
SPIEGEL ONLINE: Herr Scholze, Sie sitzen hier in einem VW-Bus Baujahr 1953 mit mobiler Radaranlage, in dem Sie sehr viel Zeit verbracht haben . War das nicht ziemlich eintönig?
Scholze: Nein, im Gegenteil! Ich erinnere mich sehr gerne an diese Momente zurück, das war vielleicht sogar die beste Zeit meines Lebens. Meist saß ich mutterseelenallein in dieser Kiste, das war eine herrliche Ruhe.
SPIEGEL ONLINE: Hatten sie nie Ärger mit den Rasern, denen Sie ein Knöllchen verteilten?
Scholze: Ich habe nur wenige von den Rasern persönlich getroffen, weil ich ja am Straßenrand im Bulli saß. Am Anfang haben die uns gar nicht wahrgenommen. Der Bulli stand da, das Radargerät im Rückfenster war auch zu erkennen, aber die Leute wussten noch gar nicht, was das war. Erst wenn es dann blitzte, drehten einige von Ihnen aber doch um und kamen zurück mit den dollsten Ausreden, damit sie ihren Strafzettel nicht zahlen mussten.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Scholze: Ach, da war alles dabei, der eine hat das Schild nicht gesehen, der andere war fest davon überzeugt, dass dort gar kein Schild stand und der nächste musste unbedingt seine schwangere Frau ins Krankenhaus fahren - diese Ausrede habe ich übrigens besonders häufig gehört. Aber geblitzt ist geblitzt, damit war der Fall abgeschlossen. Ärger hatte ich aber eigentlich nie, und mir hat auch nie jemand gegen das Auto getreten (lacht).
SPIEGEL ONLINE: Damals in den Sechzigern gab es nur wenig Verkehr. Wie vertreibt man sich die Zeit, während man am Straßenrand auf Raser wartet?
Scholze: Wenn ich am Standort ankam, musste ich das Fahrzeug entsprechend der Dienstordnung erst mal exakt parallel zur Fahrbahn ausrichten, damit das Gerät einwandfrei funktioniert. Und ab und an hatte ich auch Gesellschaft, zum Beispiel einen Amtsrichter, der sich die Radarmessung mal anschauen wollte. Am Standort fragte er mich, ob ich schätzen könne, wie schnell das ankommende Fahrzeug sei. Ich sagte ihm, dass das Auto etwa siebzig fahren würde. Die Radarmessung ergab 73 km/h, da staunte der Richter nicht schlecht. Das lernt man, wenn man stundenlang in so einer Kiste sitzt und nichts anderes zu tun hat. Ich will mich damit nicht rühmen, aber so war es.
SPIEGEL ONLINE: Wie wurden Sie zu einem von Deutschlands ersten Blitzer-Polizisten?
Scholze: Ich bin 1950 in die Polizei eingetreten und den Lehrgang für die Radarkontrolle habe ich 1961 gemacht. Ich hatte damals Interesse an der Technik und wurde von meinem Dienststellenleiter für den Radarlehrgang ausgewählt - übrigens der zweite Lehrgang, den es überhaupt gab. Das war eine zweiwöchige Ausbildung, die sich nicht nur auf den Radarwagen, sondern auch die entsprechenden gesetzlichen Regelungen und die Strafprozessordnung bezog - das war ja alles noch ziemlich neu für uns. Wir wurden dort also eingehend geschult und dann auf die Menschheit losgelassen - sehr zum Nachteil der Verkehrsteilnehmer (lacht).

SPIEGEL ONLINE: Auch schon einmal zu ihrem eigenen Nachteil?
Scholze: Ach Gott, ich bin ehrlich: ja, selbstverständlich! Ich war mit einem Kollegen auf dem Rückweg von einer Tagung in Berlin unterwegs. Wie es dann so ist, haben wir uns angeregt unterhalten. Kurz hinter Braunschweig auf der B 214 muss ich wohl ein Ortsschild übersehen haben. Ich hätte also fünfzig Kilometer pro Stunde fahren müssen. Na ja, bei mir waren es 83 km/h und da blitzte es dann auch schon - Pech gehabt. Das Endergebnis war vier Wochen Fahrverbot und ein paar Mark in die Kasse des Staates. Das wars. Seitdem schaue ich immer tunlichst auf meinen Tacho.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie ein guter Autofahrer?
Scholze: Ich bemühe mich. Seitdem ich geblitzt wurde, hat sich mein Fahrstil wesentlich verbessert. Ich schaue mich immer um (lacht).
SPIEGEL ONLINE: Aktuell wird mal wieder über ein generelles Tempolimit diskutiert. Was halten Sie davon?
Scholze: Ich habe Unfälle miterlebt, da läuft es mir heute noch kalt den Rücken runter. Viele davon passierten, weil die Fahrer zu schnell unterwegs waren. Wenn sie sowas erleben, dann halten sie nicht mehr viel von unbeschränkter Fahrt. Die Leute wissen gar nicht, was sie damit anrichten.

Radarmessung mit mobiler Anlage
Foto: PTB BSSPIEGEL ONLINE: Wie erleben Sie heute den Straßenverkehr im Gegensatz zu damals?
Scholze: Die Leute sind gestresster, viel aufgeregter und so fahren sie auch. Wenn ich das heute sehe, wie viele Autofahrer ihrem Vordermann ganz dicht auffahren , Gott sei Dank wird das ja inzwischen geahndet. Und sind wir doch mal ehrlich: Die Leute tun immer so, als hätten sie keine Zeit. Aber wenn dann ein Unfall passiert ist, dann wünschen sie sich, sie hätten sich die Zeit genommen.