VW-Zukunftsforscher "Jedes Fahrzeug wird eine rollende Internetadresse"

Das Auto der Zukunft kann Gedanken lesen und verrät den Passagieren aktuelle Supermarkt-Angebote. Science Fiction? Nein, das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit aus dem VW-Konzern.
VW Konzeptentwurf Sedric für autonomes Fahren Sedric

VW Konzeptentwurf Sedric für autonomes Fahren Sedric

Foto: Uli Deck/ dpa

In seinem Büro geht die Uhr eine Stunde vor. "Das muss an der Funkverbindung liegen", entschuldigt sich Wolfgang Müller-Pietralla. Er habe mehrmals versucht, sie zu stellen. Als hätte es noch eines letzten Beweises bedurft: Der Mann ist seiner Zeit voraus. Müller-Pietralla leitet seit 2002 im Volkswagen Konzern die Abteilung für Zukunftsforschung und Trendtransfer.

Während Europas größter Autohersteller mit der Dieselaffäre Vergangenheitsbewältigung betreiben muss, versucht der 55-jährige Biologe die großen Themen der nächsten Jahrzehnte aufzuspüren. Um seine Treffsicherheit zu belegen, zieht er eine Präsentation von 2004 aus dem Bücherregal. In dieser sagte er unter anderem das autonome Fahren voraus.

SPIEGEL ONLINE: Herr Müller-Pietralla, Sie sind Zukunftsforscher bei VW. Was ist Ihre Aufgabe?

Müller-Pietralla: Meine Aufgabe ist es, zukünftige Entwicklungen in Gesellschaft, Technologie, Umwelt, Wirtschaft und Kultur zu erforschen, deren Relevanz für den Gesamtkonzern aufzuzeigen und mit den Kollegen unserer Marken nachhaltige Mobilitätskonzepte zu erarbeiten.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt abstrakt. Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Müller-Pietralla: Weltweit sehnen sich Menschen nach Schutz und Sicherheit, auch nach Orientierung, in einer für sie oft unüberschaubaren und unsicheren Welt. Diese Werte prägen die anhaltende Dynamik des SUV-Trends - es ist doch nicht so, dass die Menschen plötzlich alle ins Gelände fahren wollen. Sie schätzen vielmehr die erhöhte Sitzposition, die ihnen einen besseren Überblick verschafft, die gefühlte Souveränität, jeder Situation gewachsen zu sein, Schutz und Geborgenheit.

SPIEGEL ONLINE: Woher beziehen Sie Ihre Einschätzungen? Das ist ja nicht die Glaskugel.

Müller-Pietralla: Unsere Zukunftsforschung ist in erster Linie wissenschaftliche Arbeit. Für den aktuellen Trendreport 2017 bis 2035 der Volkswagen Konzernforschung haben wir 1.860 Studien auf zukunftsrelevante Themen, Annahmen und Hinweise gescannt. Danach treffen wir eine Auswahl nach Dringlichkeit, Zukunftsrelevanz und möglichem Erkenntnisvorsprung.

Zudem haben wir uns mithilfe der Big-Data-basierten Intelligence-Plattform ein System aufgebaut, das Analysen der gesamten wissenschaftlichen Literatur der Welt mit mehr als 40 Millionen wissenschaftlichen Artikeln, 95 Millionen Patenten sowie täglich mehr als 90.000 aktuellen Nachrichten in Echtzeit ermöglicht.

SPIEGEL ONLINE: VW besitzt also eine gigantische Zukunftsmaschine. Wie wird diese bedient?

Müller-Pietralla: Auf der Grundlage von Algorithmen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. Am Ende geht es darum, zusammenhängende Muster zu erkennen und die Dynamik von Trends sichtbar zu machen. Dazu brauchen wir Fachexperten aus unterschiedlichen Disziplinen der Konzernforschung. Die eigentliche Leistung steckt in der detaillierten Formulierung der Fragestellung, ihrer Übersetzung in ein digitales Modell und der notwendigen Programmierung der Algorithmen.

SPIEGEL ONLINE: Wie sieht so etwas aus?

Müller-Pietralla: Wenn wir zum Beispiel wissen wollen, wie sich das Mobilitätsverhalten in einer bestimmten Region innerhalb der nächsten zehn oder 15 Jahre voraussichtlich verändern wird, dann müssen wir alle dafür relevanten Kriterien in unsere Fragestellung einbeziehen: Bevölkerungszahlen und -struktur, Fahrzeugaufkommen, öffentliche Infrastruktur, wirtschaftliche Entwicklung und Einkommensverteilung, Wettbewerbsverhalten, Konsumverhalten, gesellschaftliche Grundeinstellungen, gesetzliche Rahmenbedingungen. All dies und mehr hat Einfluss darauf, wie Mobilität von morgen aussieht.

SPIEGEL ONLINE: Und wie fahren wir in Zukunft Auto?

Müller-Pietralla: Bisher war das Automobil sehr stark von den Kundenwünschen geprägt - ob es eine Lederausstattung hat oder eine elektrisch öffnende Kofferraumklappe. Auch in Zukunft werden die Vorstellungen der Kunden natürlich von großer Bedeutung sein, aber das Geschäftsmodell, das hinter der Nutzung des Fahrzeugs steckt, wird an Bedeutung zunehmen. Ich nenne ein Beispiel: Sie haben sicher schon von Sedric gehört....

Robo-Taxi VW Sedric

Robo-Taxi VW Sedric

Foto: Volkswagen

SPON: Volkswagens erstes Konzeptauto für autonomes Fahren, das sowohl fürs Carsharing als auch für den persönlichen Besitz vorgesehen ist.

Müller-Pietralla: Genau. Im Vergleich zu einem Golf im Privatbesitz, der alle möglichen Aufgaben erledigen muss, bucht der Kunde den Sedric künftig nach Anlass. Der eine ist als fahrendes High-Tech-Büro ausgestattet, der andere ein Hochzeitsfahrzeug mit Swarowskisteinen geschmücktem Innenraum. Per Knopfdruck kann der Wagen zu einem Ort bestellt und abberufen werden.

SPIEGEL ONLINE: Wann können wir mit solchen Fahrzeugen rechnen?

Müller-Pietralla: Etwa 2025 sollen sie einsatzbereit sind.

SPIEGEL ONLINE: Was fehlt den Autos denn noch bis zur Serienreife?

Müller-Pietralla: Das autonom fahrende Fahrzeug muss mindestens alle Verkehrsregeln beherrschen, um eine Fahrerlaubnis zu erhalten. Es benötigt über Millionen von Kilometer Erfahrung und die Kompetenz, mit dem unlogischen Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer umzugehen. Jeder von uns weiß wie wichtig im Alltag vorausschauendes Verhalten ist. Alles was wir Menschen mit unseren Sinnen wahrnehmen können muss in technische Lösungen transferiert werden.

SPIEGEL ONLINE: Der Sedric sieht zwar futuristisch aus, setzt aber nach wie vor auf die individuelle Mobilität - bleibt also ein Auto.

Müller-Pietralla: Die Anzahl der Verkehrsmittel wird sich in Zukunft kaum verändern. Der Unterschied zur heutigen Zeit wird die Integration aller Fahrzeuge in das Internet der Mobilität sein.

SPIEGEL ONLINE: Was heißt das?

Müller-Pietralla: Wenn alle Personen und Fahrzeuge miteinander vernetzt sind, habe ich die Möglichkeit einer nahtlosen Mobilität, die quasi funktioniert wie am Schnürchen. Heute ist noch jeder Übergang auf ein anderes Verkehrsmittel unbequem: Aufstehen, Gepäck mitnehmen und dann im unangenehmsten Fall im Regen warten. Künftig werden wir intelligente Systeme haben, die erkennen, wie gut die zeitlichen Anschlüsse passen, Wartezeiten minimieren und die bestmögliche Verbindung sicherstellen. Diese Systeme können nur zuverlässig arbeiten, wenn zum Beispiel die Fahrtziele der Kunden bekannt sind.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt nach dem gläsernen Menschen.

Müller-Pietralla: Ein bisschen durchaus. Im Prinzip ist dann jedes Fahrzeug eine rollende Internetadresse. Allerdings ist die Identität des Fahrers dabei gar nicht entscheidend. Es geht vielmehr darum, den Schwarm der Fahrzeuge mit vorausschauenden Systemen zu lenken. Was wir benötigten, wäre ein virtuelles Lotsensystem für die Straße, das die Ziele der Autofahrer kennt und deshalb weiß, wie sich eine Verkehrssituation entwickeln wird. Alle Autofahrer erhielten dann eine persönliche Routenempfehlung, damit sich erst gar kein Stau bildet. Das wäre ein echter Fortschritt. Heute erfahre ich oft erst im Stau, dass ich im Stau stehe.

SPIEGEL ONLINE: Das heißt, die Autos geben permanent Daten ab und empfanden welche. Wie verändert sich das Autofahren dadurch?

Müller-Pietralla: Das Autofahren wird vielseitiger. Die Insassen der Fahrzeuge können beispielsweise Geodaten-basiert aktuelle Infos über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt beziehen, über Veranstaltungen oder auch über Angebote in den Einkaufszentren informiert werden.

SPIEGEL ONLINE: Mit der ansteigenden Digitalisierung verlieren die Autohersteller zunehmend die Hoheit über das Produkt. Google und Co. fahren immer mit. Wie gefährlich ist das für einen Konzern wie VW?

Müller-Pietralla: Nun, wenn angenehme Erlebnisse zukünftig nicht mehr durch das Fahrverhalten, sondern lediglich durch Shopping während der Fahrt ausgelöst werden, verbindet der Kunde das angenehme Gefühl nicht mehr mit dem Auto. Das Auto wird zum Transportsystem und verliert seine Identität und den Status der Begehrlichkeit.

SPIEGEL ONLINE: Digitalisierung bedeutet auch einen zusätzlichen Energiebedarf. Der Verkehrssektor in Deutschland stößt heute trotz aller Einsparziele immer noch so viel CO2 aus wie 1990.

Müller-Pietralla: In der Automobilindustrie haben wir es geschafft, PKWs deutlich effizienter zu machen. Gleichzeitig werden mehr Fahrzeuge verkauft, die Verbrauchseinsparungen werden kompensiert. Das zeigt, dass wir hier in puncto CO2-Reduktion auf dem falschen Weg sind. Statt nur Verzicht und Einsparung brauchen wir eine radikale Umstellung des Energiesystems. Insbesondere in den südeuropäischen Staaten erkenne ich große Potenziale, eine regenerative Energiewirtschaft aufzubauen. Das sehe ich als primäre gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Selbst Deutschland hat sich aus meiner Sicht noch nicht klar für eine regenerative Wirtschaft entschieden.

SPIEGEL ONLINE: Machen Sie es sich als Vertreter eines Autokonzerns nicht zu einfach, die Verantwortung für eine umweltfreundlichere Mobilität auf die Politik oder die Energiekonzerne abzuwälzen?

Müller-Pietralla: Wir als Unternehmen haben uns entschieden, massiv in die E-Mobilität zu investieren. 2025 wollen wir 25 bis 30 Prozent E-Autos in den einzelnen Marken anbieten.

Volkswagen-Studie VW I.D. - der elektrische VW-Bus

Volkswagen-Studie VW I.D. - der elektrische VW-Bus

Foto: Andreas Arnold/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Das war die Werbepause. Kommen wir zurück zum Problem.

Müller-Pietralla: Unser Wirtschaftssystem ist wachstumsabhängig. Mit einem zunehmenden weltweiten Wohlstand werden mehr Menschen Zugang zu Strom erhalten. Darüber hinaus nimmt die Weltbevölkerung kontinuierlich zu, bis 2050 etwa um 2,3 bis 2,4 Milliarden Menschen; der weltweite Mobilitätsbedarf wird sich Studien zufolge nahezu verdoppeln. Vor diesem Hintergrund habe ich meine Zweifel, dass wir dem Klimawandel alleine als Automobilhersteller begegnen können.

SPIEGEL ONLINE: Da müssten doch alle Alarmglocken in einem Konzern wie VW läuten. Kurz gesagt: Wenn wir unsere Mobilität nicht radikal ändern, stellen wir diese komplett aufs Spiel.

Müller-Pietralla: Das radikale Vorgehen wäre tatsächlich, Mobilität einzuschränken. Aber ich warne vor den Folgen: Damit verbunden wäre ein Abbau von Arbeitsplätzen in einer Größenordnung, die keiner vorhersehen kann. Wir brauchen die Mobilität für ein stabiles Wirtschaftswachstum. Aber ohne eine verstärkte Nutzung von regenerativ erzeugter Energie in der Zukunft lässt sich dieser Widerspruch nicht auflösen.

SPIEGEL ONLINE: Bei diesen düsteren Prognosen scheinen mir 25 bis 30 Prozent E-Autos in 2025 als VWs Beitrag gegen den Klimawandel nicht auszureichen.

Müller-Pietralla: Auch der mit synthetischen Kraftstoffen betriebene Verbrennungsmotor sorgt für eine sehr gute CO2-Gesamtbilanz. Zwischen den Jahren 2023 und 2025 erwarten wir eine Kostenparität unter den Antriebssystemen - ein E-Fahrzeug wird dann genauso teuer sein wie ein Automobil mit Verbrennungsmotor. Dann kann der Verbraucher entscheiden, mit welchem Kraftstoff wir in Zukunft fahren.

SPIEGEL ONLINE: Wie wird sich der Autofahrer Ihrer Meinung nach entscheiden?

Müller-Pietralla: Ich bin sehr optimistisch, dass das Pendel zugunsten des Elektroautomobils ausschlagen wird, zumal wir langfristig nicht nur die Kosten senken, sondern auch die Reichweite erhöhen und das Aufladen beschleunigen werden. Viele Autofahrer, die auf der Langstrecke unterwegs sind oder nur mit einem Auto auskommen, werden Hybridkonzepte mit synthetischen Kraftstoffen, beispielsweise Methan, bevorzugen.

SPON: Was würde als Sofortmaßnahme helfen?

Müller-Pietralla: Wenn wir die Passagieranzahl in den Fahrzeugen erhöhen könnten, die Insassen zu zweit oder dritt führen statt alleine. Dank Smartphone-Kommunikation wäre das auch problemlos möglich.

SPON: Oder für weniger Fahrten den Pkw benutzen. Was sagt Ihre Literatur zu einer Zukunft ohne Autos?

Müller-Pietralla: Das Automobil hat in den letzten 100 Jahren gezeigt, dass die Menschen diese Form der individuellen und auch bequemen Mobilität schätzen und benötigen. In Städten wie Tokio, das 2050 voraussichtlich mehr als 32 Millionen Einwohner haben wird, spielt das Automobil im Privatbesitz dann kaum noch eine Rolle. Zum Trend der Urbanisierung gibt es aber auch noch einen Gegentrend - den der "Shrinking Cities", also der schrumpfenden Städte.

Kurzum: Je dezentraler die Menschen leben, desto bedeutsamer bleibt das Automobil. Wenn es elektrisch aus erneuerbaren Energien angetrieben wird, sind wir klimapolitisch auf einem guten Weg.

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