
Dokumentarfilm von Werner Herzog: Vier Leidensgeschichten
SMS-Dokumentation Kurze Nachricht, ewiger Schmerz
Chandler Gerber musste diese eine Botschaft unbedingt loswerden. Er tippte sie am Steuer seines Vans ins Handy, während der Fahrt, auf einer kaum befahrenen Straße im US-Bundestaat Indiana. Sie war an seine Frau adressiert: "I Love You". Natürlich konnte er die Antwort nicht abwarten. Und als er sie las, da passierte es: Mit voller Wucht raste er in eine vollbesetzte Pferdekutsche und tötete drei Menschen.
Die Geschichte von Gerber ist eines von vier Schicksalen, die der deutsche Regisseur Werner Herzog in seinem Dokumentarfilm "From One Second To The Next" ("Von einer Sekunde auf die andere") erzählt. Jedes dieser Schicksale ist berührend: Weil sie deutlich machen, dass Leben innerhalb eines Augenblicks zerstört werden können.
Es geht um vier Verkehrsunfälle mit einer gleichen Ursache - Ablenkung am Steuer durch das Mobiltelefon. Herzog lässt die Betroffenen zu Wort kommen: Verursacher, Opfer, deren Familien. Zum Beispiel eine Mutter, deren Sohn gelähmt im Rollstuhl sitzt, weil ihn eine Autofahrerin übersehen hat. Die Frau am Steuer war abgelenkt, sie verschickte eine Kurznachricht. Der Text: "Bin gerade unterwegs."
"Der 7. Sinn" aus Hollywood
Einen Beitrag zur Verkehrserziehung hätte man von Werner Herzog wohl eher nicht erwartet. Der 70-Jährige wurde berühmt mit Filmen wie "Nosferatu", "Fitzcarraldo" und "Aguirre, der Zorn Gottes", abgründige Geschichten voller Wahnwitz. Für viele seiner Produktionen engagierte er den Schauspieler Klaus Kinski, über die Hassliebe zu ihm veröffentlichte er 1999 die Doku "Mein liebster Feind". 2009 war seine Dokumentation "Begegnungen am Ende der Welt" für den Oscar nominiert, zuletzt wechselte er die Seiten und stand in dem Blockbuster "Jack Reacher" als Gegenspieler von Tom Cruise vor der Kamera. So einer macht jetzt eine Art Hommage an die deutschen Verkehrsunterrichtsfilmchen "Der 7. Sinn"?
Der Film ist eine Auftragsarbeit, mehrere große Mobilfunkunternehmen in den USA haben sie angeschoben. Ein Sprecher des Konzerns AT&T sagte: "Herzog kann eindringlich Geschichten erzählen. Durch ihn wollen wir so viele Leute wie möglich erreichen und über die Gefahren von Simsen am Steuer aufklären." Gerade weil Herzog in den vergangenen Jahren vor allem Dokumentationen gedreht hat, war er für das Unternehmen wohl der richtige Mann. Außerdem ist der in Bayern geborene Regisseur längst in Hollywood etabliert und lebt seit fast 20 Jahren in den USA.
"Wir drehen dir kein Handy an"
Herzog selbst zögerte bei dem Angebot nicht lange: "Hier werden Familien von Katastrophen erschüttert", sagte er der Nachrichtenagentur AP zur Tragweite, die das Thema für ihn hat. "Innerhalb einer Sekunde werden Leben ausgelöscht oder für immer verändert. Ich war mir sicher, dass ich einen so emotionalen Stoff umsetzen kann."
Dass es sich um einen Marketingfilm handelt, findet er nebensächlich. "Es ist ja ziemlich offensichtlich, dass der Film nichts mit Werbung zu tun hat", sagt er. "Wir drehen dir kein Handy an, sondern versuchen, das Bewusstsein zu schärfen." Laut Angaben von AT&T soll die Doku an mehr als 40.000 Schulen gezeigt werden, außerdem ist sie im Internet frei zugänglich .
Der Film hat gute Chancen, sein Ziel zu erfüllen. Das liegt vor allem an der Glaubwürdigkeit seiner Protagonisten: Hier werden weder Unfälle von Schauspielern nachgestellt, noch treten Verkehrsexperten mit erhobenem Zeigefinger auf. Sondern echte Menschen erzählen von echtem Leid. Dazu zeigen Polizisten die Aufnahmen von den Unfallorten.
Ein Viertel aller jungen Autofahrer fährt und schreibt
Im Vorspann der Dokumentation heißt es, dass in den USA jährlich mehr als 100.000 Verkehrsunfälle passieren, weil die Fahrer sich mit dem Handy ablenken. Wie viele es in Deutschland sind, weiß niemand genau. Das Statistische Bundesamt, das die Zahl der Unfälle und deren Ursachen erhebt, kann darüber keine Auskunft geben: Die Unfallformulare der Polizei stammen von 1975, heißt es bei der Behörde - ein entsprechendes Kästchen lässt sich als Grund für den Unfall nicht ankreuzen.
Dass "From One Second To The Next" dringend ins Deutsche übersetzt werden sollte, machen aber diese Zahlen deutlich: Bei einer im Juni veröffentlichten Umfrage unter jungen Autofahrern gaben 26 Prozent der Teilnehmer in Deutschland zu, während der Autofahrt SMS zu schreiben. Europaweit ist es sogar noch schlimmer, dort liegt der Wert bei 37 Prozent.
Chandler Gerber, der "I Love You" textete und dann bei seinem Crash drei Menschen tötete, hat jetzt eine andere Botschaft, die er unbedingt loswerden muss: "Es gibt eine Möglichkeit, Leben zur retten: Legt im Auto einfach das Handy weg."