Elektronik statt Hydraulik Die Fortschritts-Bremse

Erprobt wird das Brake-by-Wire-Systems in Tesla Model 3 und Model S (im Bild)
Foto: Marco De Ponti / BremboDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Beim Bremsen vertrauen Autofahrer seit Jahrzehnten auf die Hydraulik. Anfangs hatten Skeptiker, noch an Seilzugbremsen gewöhnt, vermutlich arge Sicherheitsbedenken. Schließlich könnte ein Leck im System die Bremsanlage versagen lassen.
Mittlerweile hat die Autoindustrie die Bremse zur Perfektion entwickelt. Ab den Achtzigerjahren wurden ABS (Antiblockiersystem) und ESP (Elektronisches Stabilitätsprogramm) integriert. Seither ist eine Vollbremsung so sicher wie nie zuvor. Was also soll da noch kommen?

Das Brake-by-Wire-System spielt seine Vorteile besonders bei schlechten Straßenverhältnissen aus
Foto: BremboDoch nun zeichnet sich der nächste Techniksprung ab. Als Bremse der Zukunft gilt Brake-by-Wire (Bremsen über Kabel), kurz BBW genannt. Das elektronische System kommt – zumindest bei kleinen Fahrzeugen – komplett ohne hydraulische Bremsleitungen aus.
Als Treiber sieht sich Brembo. Der italienische Bremsenspezialist, Erstausrüster vieler Supersportwagen und Lieferant der Formel 1, entwickelte BBW jetzt zur Serienreife. Allerdings: Die Konkurrenz arbeitet auch an der Technik. »Wir sind an dem Thema dran«, sagt ein Sprecher von ZF, äußert sich jedoch nicht zum Stand der Entwicklung.
Brembo hingegen gibt bekannt, dass 2024 erstmals ein Autohersteller mit »Sensify«, so der Produktname, debütieren wird. Welcher es sein wird, verrät Brembo-Boss Daniele Schillaci nicht. Ein möglicher Kandidat wäre Tesla. Die Kalifornier erneuern das Model S. Auch ein chinesisches Start-up käme infrage. Autohersteller aus der Volksrepublik klopfen häufiger an die Tür von Brembo. Schillaci ist fest davon überzeugt, dass Brake-by-Wire in etwa zehn Jahren zur Standardausstattung der Premiummarken gehören wird.
In dem System schickt der Autofahrer über seinen Fuß nur einen elektronischen Befehl an die Räder. Hinten pressen kleine Elektromotoren die Bremsklötze blitzschnell direkt an die Bremsscheiben. Vorn sitzen die Motoren aus Gewichtsgründen etwas außerhalb, aber nah am Rad. So wird dort dann doch noch eine kurze Hydraulikleitung benötigt, zumindest bei größeren und schwereren Autos. Der Fahrer baut beim Tritt ins Pedal aber keinen direkten Druck mehr über die Hydraulikflüssigkeit auf.
»Die Elektronik ist drei- bis fünfmal schneller als die Hydraulik«, sagt Brembo-Vertriebschef Uwe Hein. Deshalb verkürzt sich laut Brembo der Bremsweg bei 120 km/h um elf Meter, allein durch die schnellere Reaktion.
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Wie aber fühlt sich das elektronische Bremsen für die Autofahrerin oder den Autofahrer an? Wir testeten das System auf dem abgesperrten Tazio-Nuvolari-Circuit südlich von Mailand. Ausgestattet mit dem BBW-System wurden einige Tesla Model 3 und Model S. Einzelne Streckenabschnitte waren präpariert, sie simulierten Regen, Schnee und feuchten Asphalt. Kurven und Ausweichmanöver wurden auf trockenem Belag getestet.
Schon die erste Vollbremsung auf regennasser Fahrbahn ließ den Testfahrer staunen. Es herrscht absolute Ruhe im Bremssystem. Kein Rad blockiert, der Wagen verzögert gleichmäßig, weich, stabil und trotzdem stärker als mit konventionellen Bremsen. Was für ein Unterschied zum lauten Vibrieren im Pedal, das gewöhnlich durch die ABS-Regelung ausgelöst wird.
Der Energiespareffekt
Noch mehr beeindruckt das System bei der Schnee-Simulation. Auch hier kein ABS-Rattern, kein Ausbrechen, keine Unruhe, kein instabiles Gefühl. Selbst bei einer Vollbremsung in einer schnell gefahrenen Kurve bleibt der Tesla stoisch in seiner Bahn. Das System regelt rasant, feinfühlig und komfortabel. Bremsen war nie einfacher. Wer möchte, konfiguriert das Bremsverhalten nach Gusto. Zur Auswahl stehen die Modi Soft, Normal und Sport.
Ein weiteres Versprechen des Brake-by-Wire-Systems: Es soll helfen, Energie zu sparen. Denn die präzise elektronische Steuerung lässt die Bremsklötze nicht – wie sonst üblich – minimal an den Bremsscheiben schleifen. Mit Brake-by-Wire können die Räder freier drehen. »Um zwei bis drei Prozent ließe sich damit bei Elektroautos die Reichweite erhöhen«, sagt Brembo-Chef Schillaci, »zudem wird weniger Bremsstaub in die Umwelt gewirbelt«.
Brake-by-Wire böte Fahrern von Elektroautos noch einen anderen Vorteil: »Der Übergang zwischen Rekuperation und mechanischer Bremse kann durch die Abstimmung eines solchen Systems signifikant optimiert werden«, sagt Alexander Krug, Partner der Strategieberatung Arthur D. Little.

Computer im Fahrzeug zeichnen sämtliche Testbremsungen auf
Foto: Michael SpechtDesigner und Konstrukteure der Autohersteller freuen sich bereits auf neue Freiräume, die ihnen Brake-by-Wire bietet. »Die Systemkomponenten sind kleiner als die herkömmlichen und können an nahezu beliebiger Stelle platziert werden«, so Experte Krug, »und Konstrukteure sind froh um jeden Zentimeter Bauraum«.
Vorteile verspricht das elektronische Bremsen auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Bei den speziell umgerüsteten Fahrzeugen wird das Pedal meist über eine aufwendige Mechanik betätigt. »Brake-by-Wire braucht kein Pedal mehr, auch eine Art elektronischer Joystick würde sich fürs Bremsen eignen«, ist sich Brembo-Vertriebschef Uwe Hein sicher.
Was, wenn der Strom ausfällt?
Für Alexander Krug vereinfacht Brake-by-Wire darüber hinaus das autonome Fahren. Level-5-Fahrzeuge, also jene ohne Lenkrad, ohne Fahrer und damit auch ohne Pedale, wären geeignete Adressaten. »Ein elektronisches Bremssystem ließe sich hier nicht nur kostengünstiger und platzsparender installieren, sondern auch sensibler steuern«, glaubt Krug.
Obwohl Flugzeuge längst seit vielen Jahren mit Fly-by-Wire-Technik sicher starten, landen und fliegen, bleibt bei vielen Menschen womöglich ein mulmiges Gefühl, wenn das Auto elektronisch bremsen soll. Was, wenn der Strom ausfällt? »Es sind grundsätzlich zwei Batterien an Bord«, versucht Brembo-Chef Daniele Schillaci, Bedenken zu nehmen, »die Redundanz ist sogar höher als bei einem konventionellen Bremssystem«.
Michael Specht ist freier Autor und wurde bei seiner Recherche von Brembo unterstützt. Die Berichterstattung erfolgt davon unabhängig.