Platz für Fußgänger und Radfahrer Brüssel plant die Verkehrsrevolution

Brüder, aufs Rad! Die Stadt Brüssel rollt Radfahrern den roten Teppich aus.
Foto: Francois Lenoir/ REUTERSBrüssel ist eine klassische Autostadt: Der öffentliche Nahverkehr ist bestenfalls mittelprächtig ausgebaut. Statt Radwegen gibt es Fahrradsymbole, die auf die chronisch engen Straßen gepinselt wurden und die kaum ein Autofahrer beachtet. Die wenigen echten Radwege eignen sich eher für beißende Satire als für sicheres Radfahren (siehe Video unten).
Fußwege sind oft kaum breiter, und von Barrierefreiheit hat man in der EU-Hauptstadt ohnehin noch nicht viel gehört. Wohl dem, der nicht mit dem Rollstuhl oder mit einem Kinderwagen unterwegs ist.
Umso erstaunlicher ist, was die Brüsseler Verwaltung jetzt in Zeiten der Coronakrise tut:
Die gesamte City wurde kurzerhand zur verkehrsberuhigten Zone erklärt,
ab dem nächsten Jahr gilt in allen 19 Brüsseler Stadtteilen Tempo 30,
binnen weniger Wochen sollen 40 Kilometer neue Radwege entstehen.
Innerhalb des Innenstadtrings - wegen seiner Form auch Pentagon genannt - gilt seit vergangener Woche Tempo 20 bis 30, Fußgänger dürfen die komplette Fahrbahn benutzen. Die offizielle Begründung: Die Menschen sollen in engen Altstadtgassen den Corona-Sicherheitsabstand von anderthalb Metern einhalten können und deshalb die Straßen nutzen.
Es geht dabei immerhin um ein Gebiet von gut zwei mal zweieinhalb Kilometern. Übertragen auf Berlin wäre das ungefähr so, als würde man alle Straßen vom Brandenburger Tor bis zum Fernsehturm und vom Checkpoint Charlie bis zum Nordbahnhof den Radfahrern und Fußgängern widmen.
Autofahrer in Brüssel sind selbstbewusst unterwegs
Drei Monate soll die Testphase dauern, ehe über eine Verlängerung entschieden wird. Ob sie kommt, scheint nicht ganz sicher - allzu ernst genommen wird die Verkehrsberuhigung bisher anscheinend nicht. An den Grenzen der Innenstadt weisen lediglich kleine Schilder auf die neue Lage hin, Autofahrer scheinen sie kaum wahrzunehmen.
Wer als Fußgänger auf seine neuen Rechte pochen wollte, müsste jedenfalls Mut an der Grenze zur Lebensmüdigkeit mitbringen. Autofahrer in Brüssel sind selbstbewusst unterwegs. Die Behörden scheinen es jedoch ernst zu meinen. Mitte April haben sie entschieden, dass ab dem 1. Januar 2021 auch in ganz Brüssel standardmäßig Tempo 30 gilt. 50 und 70 km/h sollen nur noch dort erlaubt sein, wo Schilder eigens darauf hinweisen.
Das kommt für Brüssel einer Revolution gleich, herrschte doch in der Stadt bisher das Auto. Das Steuerrecht bietet so große Anreize für den Kauf von Dienstwagen, dass böse Zungen behaupten, jeder Angestellte vom Pförtner aufwärts habe einen. Eine Folge: Die Verkehrsdichte Brüssels bewegt sich auf dem Niveau von Paris oder Rom – und deutlich über der von Deutschlands Stauhauptstadt Hamburg.
Radfahren statt Drängeln in der U-Bahn
Jetzt also steuern die Brüsseler Behörden radikal um – und das nicht nur, indem sie die Innenstadt zur verkehrsberuhigten Zone erklärt haben. In den nächsten Wochen sollen auch insgesamt 40 Kilometer an neuen Radwegen entstehen. "Noch nie wurden in Brüssel so viele Radwege in so kurzer Zeit gebaut", sagte Elke Van den Brandt, Verkehrsministerin der Brüsseler Regionalregierung.
Die Eile hat ihre Gründe ebenfalls in der Coronakrise – denn mit der schrittweisen Lockerung der Schutzmaßnahmen dürfte auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wieder steigen. Um zu vermeiden, dass die Menschen sich in der Rushhour wieder in Bussen und U-Bahnen drängeln – was nach Ansicht von Forschern besonders gefährlich ist - müssen Alternativen her. Das Fahrrad bietet sich laut Van den Brandt an, da ohnehin zwei Drittel aller Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln weniger als fünf Kilometer lang seien.
Luftqualität muss verbessert werden
Dennoch ist das Coronavirus nicht der einzige Grund für den Kurswechsel. Den Behörden geht es auch darum, teuren juristischen Ärger zu vermeiden.
Im Juni 2019 hat der Europäische Gerichtshof nach einer Klage Brüsseler Bürger geurteilt, dass die Behörden sich nicht selbst aussuchen können, wo sie die Luftqualität messen, sondern dies auch an besonders belasteten Stellen tun müssen. Deshalb mussten nun sogar die Rue de la Loi und die Rue Belliard – die beiden vier- und fünfspurigen Ein- und Ausfallstraßen zwischen EU-Viertel und Innenstadt – jeweils eine Fahrspur abgeben.
Dafür gibt es dort nun beidseitig einen Radweg, mit Betonbarrieren geschützt vor den Autofahrern. Die haben damit die Wahl, das Auto nach der Krise entweder stehen zu lassen oder in Zukunft noch schlimmere Staus zu erdulden.
Schon in Kraft getreten ist ein Plan zur Steigerung der Luftqualität. Er hat zu einem Fahrverbot für alte Dieselkarossen geführt, nun sollen die Regeln jährlich verschärft werden. Ab 2025 dürfen dann nur noch Autos der Schadstoffklasse Euro 6 im Großraum Brüssel fahren. Bei einem Verstoß sind 350 Euro fällig.
Was in der EU-Hauptstadt passiert, könnte in anderen europäischen Metropolen ebenfalls Schule machen, auch in Deutschland. Überall haben es die Verkehrsplaner mit demselben Gedränge auf Straßen und in Bussen und Bahnen zu tun. Auch das EuGH-Urteil zur Luftqualität gilt, obwohl die Klage sich auf die belgische Hauptstadt bezog, für die gesamte EU.