Dieselskandal Daimler blitzt in Flensburg mit Widerspruch gegen Megarückruf ab

Sauber, oder doch nicht? Daimler muss sich im Dieselskandal weiter gegen den Vorwurf der Motormanipulation verteidigen
Foto: Matthias Schrader / APDer vertrauliche Brief datiert vom 4. April 2019, verschickt hat ihn das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Empfänger: die Daimler AG. Auf vier Seiten listen darin die Flensburger Beamten auf, wie die Ingenieure des Stuttgarter Autobauers mutmaßlich eine Reihe von Dieselmodellen so präpariert hatten, dass sie auf dem Teststand die Stickoxidgrenzwerte einhalten, auf der Straße hingegen viel zu hohe Werte aufweisen.
Das Resümee der KBA-Leute ist vernichtend. Daimler habe »unzulässige Abschaltungen im Emissionskontrollsystem vorgenommen«, so der Vorwurf aus einer eingehenden Untersuchung an einem Geländewagen vom Typ GLK 220 CDI (Euronorm 5).
Fahrberichte, Analysen, aktuelle Nachrichten: So verpassen Sie keine Artikel aus der Rubrik Mobilität des SPIEGEL.
Als der SPIEGEL das brisante Schreiben Mitte April 2019 öffentlich machte, sorgte es für großen Wirbel in Stuttgart. Die Erkenntnisse des KBA hatten empfindliche Konsequenzen. Die Behörde erließ eine Reihe von Bescheiden, mit denen sie einen Rückruf diverser Modelle anordnete, darunter auch von einem Kleintransporter, bei dem die Kontrolleure zum ersten Mal fündig geworden waren. In der Folge ordnete das KBA auch für weitere Modelle Rückrufe an – nach Angaben von Daimler allein in Deutschland für rund 550.000 Dieselfahrzeuge. Viele Tausend Kunden reichten Klage gegen den Konzern ein.
Umgehend legten Daimler-Juristen Widersprüche gegen die Bescheide ein. Doch die Behörde, die dem Bundesverkehrsministerium von Andreas Scheuer (CSU) untersteht, hat diese Einsprüche nun nach Informationen von SPIEGEL und Bayerischem Rundfunk zurückgewiesen. Das bestätigten sowohl das Bundesverkehrsministerium als KBA-Aufsichtsbehörde als auch Daimler schriftlich auf Anfrage.
»Das KBA hat nahezu alle Widersprüche des Herstellers Daimler gegen KBA-Bescheide zurückgewiesen«, erklärte das Verkehrsministerium auf Anfrage: »Bei einem Widerspruch fehlt noch die Begründung des Herstellers, sodass dieser noch nicht abschließend bearbeitet werden konnte.«
15.000 Einzelklagen von Mercedes-Kunden
Daimler bleibt bei seiner Rechtsauffassung, dass es keine illegalen Abschalteinrichtungen verwendet habe. »Wir prüfen nun die Begründungen und entscheiden über die Einlegung eines Rechtsmittels«, erklärte ein Daimler-Sprecher. Solange das Unternehmen juristische Schritte überlegt, sind die KBA-Bescheide noch nicht rechtskräftig.
Daimler spielt das in den Zivilverfahren in die Hände, die von den Besitzern der betroffenen Modelle angestrengt worden sind. Nach Daimler-Angaben gibt es in Deutschland 15.000 Einzelklagen von Dieselhaltern. Bisher, so erklärt das Unternehmen, habe man 95 Prozent der abgeschlossenen Verfahren gewonnen. Viele der Verfahren sind aber noch vor diversen Gerichten in Deutschland anhängig.
Dabei ist die Expertise, die das KBA über seine Untersuchungen an den Daimler-Dieseln angefertigt hat, von zentraler Bedeutung. Solange das Tauziehen um diese Bescheide nicht rechtskräftig entschieden worden ist, können die Erkenntnisse auch nicht in den Zivilverfahren genutzt werden.
Das bringt Daimler bislang vor Gericht einen Vorteil. Viele klagende Halter mussten eigene Gutachten anfertigen lassen, manche überzeugten die Richter nicht. Das wäre vermutlich seltener passiert, wenn die Richter ein amtliches Schreiben vom KBA vorliegen gehabt hätten. Als »starkes Signal für laufende Zivilverfahren« wertet Michael Heese, Experte für Zivilrecht an der Universität Regensburg und langjähriger Beobachter des Dieselskandals, die KBA-Entscheidung.
Zahlreiche Gerichte in Deutschland haben Schadensersatz- oder Rückabwicklungsklagen von Daimler-Haltern unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, dass Daimler gegen die KBA-Bescheide Widerspruch eingelegt habe.
Sauber nur auf dem Prüfstand
Die Indizien, die das KBA etwa in dem Schreiben vom April 2019 zusammengetragen hat, lesen sich gar nicht gut für Daimler. Demnach wurde bei dem betreffenden Fahrzeug mit dem Motor vom Typ OM 651 eine »Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung« eingebaut. Sie bewirkt, dass bei der für die Typzulassung notwendigen Prüfung im Labor eine niedrigere Kühlmitteltemperatur und auch eine andere Abgasreinigungsstrategie angewendet wird. Resultat: Auf dem Prüfstand hält der Wagen die Stickoxidgrenzwerte ein, auf der Straße nicht.
Brisant ist, dass Daimlers Technikvorstand zur Zeit der Untersuchungen Ola Källenius hieß, der jetzige CEO von Daimler. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte im September 2019 gegen den Autobauer Daimler ein Bußgeld in Höhe von 870 Millionen Euro erlassen.
Als Grund gaben die Ermittler eine fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht in einer mit der Fahrzeugzertifizierung befassten Abteilung an, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. In den USA zahlte der Konzern Strafen in Milliardenhöhe im Zusammenhang mit der Dieselaffäre.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version stand, dass Daimler-Chef Källenius während der Entwicklung der betroffenen Modelle Technikvorstand war. Dies ist unzutreffend. Er war erst Technikvorstand, als die Untersuchungen des KBA liefen.