Mobilität der Zukunft "Die Politik muss Autofahren teurer machen"

Autobahn in Brandenburg
Foto: Ralf Hirschberger/ picture alliance / dpaJahrzehntelang waren Autos vor allem ein Freiheitsversprechen. Reinsetzen, losfahren - wann und wohin man will. Diese unbeschwerte Zeit ist vorbei. Die Großstädte ersticken im Stau, Autos gelten mit ihren Abgasen und dem C02-Ausstoß als wachsendes Problem. Es ist klar: So kann es nicht weitergehen.
Aber wie dann? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Zukunftsforscher Prof. Dr. Stephan Rammler. Neuartige Sharing-Modelle und andere, durch die Digitalisierung möglich gewordene Nutzungsinnovationen. Diese Themen treiben ihn um.
SPIEGEL ONLINE: Herr Rammler, viele Visionen für die Mobilität der Zukunft klingen ganz wunderbar - zumindest, wenn man in der Großstadt lebt. Auf die ländlichen Gegenden lassen sie sich aber schwer übertragen. Liegt das daran, dass sich mit diesen Themen vor allem Menschen beschäftigen, die in Metropolen leben?
Rammler: Natürlich muss man auch die ländlichen Gegenden in den Blick nehmen. Die Politik müsste sich meiner Meinung nach um diese Gegenden sogar ganz besonders kümmern, denn sie stehen bei einer möglichen Verkehrswende als größte Hürde im Weg.

Stephan Rammler, Jahrgang 1968, ist Professor für Transportation Design and Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und Gründer des Instituts für Transportation Design. Er hat mehrere Bücher zu Mobilitäts- und Zukunftsforschung veröffentlicht, zuletzt "Volk ohne Wagen - Streitschrift für eine neue Mobilität".
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Rammler: Wenn man sich mittelfristig vom Verbrennungsmotor und seinem Reichweitenversprechen verabschieden will, braucht man gute Lösungen vor allem für ländliche Gegenden. Sonst bekommt man ein Akzeptanzproblem. Der ländliche, dünnbesiedelte Raum mit seinen großen Distanzen bleibt sonst immer das Totschlagargument der Wandelgegner.
SPIEGEL ONLINE: Wie können denn dort Lösungen konkret aussehen?
Rammler: Ich muss vorwegschicken, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin. Ich kenne also das Gefühl, vom äußerst dünnen Netz des öffentlichen Nahverkehrs abhängig zu sein. Das Problem könnte man durch flexible Angebotsformate lösen.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Rammler: Durch sogenannte flexible Anrufbusse. Bis vor wenigen Jahren waren die sehr schwer umzusetzen. Das Angebot, also der Bus, und die Nachfrage, also die Nutzer, waren nur umständlich zusammenzubringen. Das hat sich durch die Digitalisierung gravierend verändert. Ich behaupte, dass das Bestellen eines solchen kleinen Busses oder Anruftaxis mit dem Smartphone nicht länger dauern würde als der Weg von der Haustür zur Garage. Wäre das Shuttle dann nach zehn Minuten da, säße ich natürlich nicht alleine drin, und er würde mich vermutlich auch nicht zur Arbeit, sondern nur zum nächstgelegenen Regionalbahnhof fahren - aber es wäre eine deutliche Verbesserung gegenüber dem heutigen Busverkehr.
SPIEGEL ONLINE: Warum sind diese Konzepte dann nicht weiter verbreitet?
Volk ohne Wagen: Streitschrift für eine neue Mobilität
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30.05.2023 03.49 Uhr
Keine Gewähr
Rammler: Die Kommunen müssten regulatorisch stärker eingreifen. Indem sie zum Beispiel bei der Neuausschreibung von Verkehrsdienstleistungen das Anbieten solcher Konzepte vorschreiben. Für die Betreiber könnte sich das rechnen: Wenn man den letzten Bus, der beim Eintreffen des letzten Zuges in einem kleinen Ort dastehen muss, durch ein Sammeltaxi ersetzt, kann das kostensparend sein. Das kann man im ersten Moment kaum glauben, weil man Busse und Taxen vor allem aus der Nutzerperspektive, also den reinen Fahrpreis, vergleicht und das Taxi als teuer gilt. Aber für den Verkehrsanbieter sieht das anders aus: Der muss den Bus samt Fahrer vorhalten - da kann ein Taxi für vier Personen durchaus günstiger sein. Vor allem, wenn an einem Abend tatsächlich mal keiner mehr mit dem letzten Zug ankommt und man den Service dann einfach streichen kann, statt den leeren Bus durch die Nacht fahren zu lassen.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem fallen doch viele Motivationen, die es für ein Umdenken in den Innenstädten gibt, in ländlichen Gegenden weg: Die Leute stehen dort kaum im Stau, müssen auch nicht ewig Parkplätze suchen. Autofahren ist kein Stress.
Rammler: Das sehe ich anders. Wir haben, begünstigt auch durch die Pendlerpauschale, die ja eine Zersiedelung fördert, kontinuierlich ansteigende Pendlerdistanzen. Wer mehr als hundert Kilometer zu Arbeit zurücklegen muss, unterliegt damit einer Belastung; das Risiko chronischer Erkrankungen steigt.
SPIEGEL ONLINE: Aber da hilft das flexible Angebotskonzept ja auch nicht weiter. Die Distanz bleibt die Gleiche, die Fahrzeit erhöht sich vermutlich eher noch, wenn man sich mit dem ÖPNV zum Arbeitsplatz begibt.
Rammler: Deswegen müssen wir die Qualität dieser Angebote deutlich steigern. Der ÖPNV muss individueller und privater werden. Warum sind alle Waggons eines Zuges heute gleich? Da gibt es doch viel Potenzial bei der Ausgestaltung des Interieurs, man könnte dort Unterschiedliches bieten: einen Waggon als mobiles Büros, einen als Ruhezone, einen anderen zur Kommunikation.
SPIEGEL ONLINE: Einen Dating-Waggon?
Rammler: Warum nicht? Früher gab es auch eine Differenzierung, nämlich erste, zweite und dritte Klasse. Warum sollte man nicht heute funktional differenzieren? Der Gedanke, die Pendlerzeit als Arbeitszeit nutzen zu können, ist - neben dem Sicherheitsaspekt - ja auch eine Haupttriebfeder für die Entwicklung autonomer Autos. Die Fahrzeugindustrie hat erkannt, dass immer mehr Leute in die Bahn steigen, weil sie dort arbeiten können. Das Gleiche wollen die Hersteller ihren Kunden bieten, nur eben im Auto. Das hat aber wenig mit nachhaltiger Mobilität zu tun. Deswegen sollten sich die Kommunen sehr intensiv Gedanken machen, was sie dem entgegensetzen wollen. Sonst müssten sie nämlich weiterhin viel Geld in Straßen investieren, das sie doch viel besser in den Ausbau des Radwegenetzes stecken könnten.
SPIEGEL ONLINE: Das Fahrrad ist doch aber für ländliche Gegenden nun wirklich nicht das richtige Fortbewegungsmittel.
Rammler: Für suburbane Räume aber durchaus. Und auch manche ländlichen Regionen gehen mit Radschnellwegen große Schritte voran. Das Fahrrad steht durch neue Technologien und Materialien, vor allem natürlich den Elektroantrieb, am Beginn seiner Neuerfindung. Mehr Menschen, auch Ältere, können durch die Trethilfe weitere Strecken zurücklegen. Wenn eine große Anzahl Pendler aus den Vororten nicht mehr mit dem Auto, sondern mit dem Rad zur Arbeit fahren würde, wäre das schon ein gigantischer Fortschritt.

Radschnellweg für Pendler in Mülheim an der Ruhr
Foto: Bernd Thissen/ dpaSPIEGEL ONLINE: Jetzt reden wir über den Weg zur Arbeit. Damit sind ja viele andere Wege, die sich mit dem Auto erledigen lassen, noch nicht berücksichtigt.
Rammler: Richtig. Das Auto kann nur ersetzt werden, wenn die Summe der Alternativen besser ist. Dort sehe ich aber Möglichkeiten: Der Einkauf zum Beispiel könnte durch komfortable Lieferservices ersetzt werden. Fahrradfahren könnte durch konsequenten Ausbau von Schnellwegen und sichere und trockene Abstellmöglichkeiten deutlich attraktiver gemacht werden. Im Verbund mit autobasierten Ride-Sharing-Modellen könnte also durchaus ein Paket entstehen, was die Abschaffung des eigenen Pkw sinnvoll macht.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass die Leute dann umsteigen?
Rammler: Nein. Deswegen muss die Politik mutig sein. Die Leute werden nicht von alleine auf andere Mobilitätsangebote umsteigen, egal, wie gut die sind. Zumindest nicht genug Menschen. Deswegen muss die Politik regulatorisch eingreifen und die Dinge, die sie nicht mehr haben will, ein Stück weit unattraktiver machen. Sie muss Autofahren teurer machen, die Zufahrt zu bestimmten Gegenden beschränken, gleichzeitig finanzielle Anreize für die Nutzung der neuen Angebote schaffen. Diesen Mut muss die Politik aufbringen.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht es in der Politik mit der Wandlungsbereitschaft aus?
Rammler: Verheerend. Die deutsche Politik hat total versagt im Hinblick auf die eigene Wahrhaftigkeit. Ich kann nicht in Paris 1,5-Grad-Ziele für das Klima verhandeln und dann als Kanzlerin zu Hause weiter alle Wege mit hubraumstarken Großlimousinen zurücklegen. Nach der Ankündigung, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen, hätte ich von der Regierung erwartet, dass sie mit gutem Beispiel vorangeht und ihre Dienstwagenflotte vollständig auf elektrische oder elektrifizierte Fahrzeuge umstellt. Das ist nicht passiert und lässt tief blicken.
SPIEGEL ONLINE: Die von Ihnen geforderten Maßnahmen würden aber auch die Autoindustrie hart treffen.
Rammler: Das stimmt nicht. Einfach weitermachen wie bisher - das ist die größte Gefahr für die deutsche Autoindustrie, wie sich ja jetzt in der Dieselkrise zeigt. Wir brauchen Veränderung, aber dafür müssen sich Politik und Gesellschaft auch entscheiden: Wollen wir nachhaltig wirtschaften, oder wollen wir niemandem wehtun? Wobei es meiner Meinung nach auch durchaus die Möglichkeit gibt, Dinge zu ändern, ohne dass das Wahlvolk gleich wegläuft.
SPIEGEL ONLINE: Wie denn?
Rammler: In Kopenhagen kann man das gut beobachten, dort hat die Stadtregierung die Bürger sehr stark in die Entwicklung von verändernden Maßnahmen einbezogen und dadurch eine sehr hohe Akzeptanz geschaffen.
SPIEGEL ONLINE: Kopenhagen ist aber auch wieder eine Metropole. Müssen wir uns darauf einstellen, dass es künftig eine Zwei-Klassengesellschaft der modernen Mobilität in den Metropolen gibt und der rückständigen Mobilität auf dem Land?
Rammler: Ich würde es eher ein Modell der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nennen. Womöglich dauert die Veränderung in den ländlichen Gegenden länger. Trotzdem ist auch da vieles möglich. Wenn die Leute konsequent auf dominant-elektrische Fahrzeuge, also Autos, bei denen ein kleiner Verbrennungsmotor nur noch als Range-Extender läuft, umsteigen würden, könnten wir bei diesen Fahrzeugen eine CO2-Einsparung von mindestens 80 Prozent realisieren. Wenn das gelänge, wäre es nicht so schlimm, wenn sich der Wandel in ländlichen Gegenden langsamer vollzöge als in Städten.
SPIEGEL ONLINE: Stichwort Elektroauto: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es bei einer konsequenten Technikfolgenabschätzung, also einer Einbeziehung aller mit dem Automobil einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen, nie eine Entscheidung für das Automobil als Fortbewegungsmittel Nummer eins gegeben hätte. Wiederholt sich die Geschichte nicht gerade in Bezug auf das E-Mobil?
Rammler: Ja, absolut. Den Kurs der Politik kann man zur Zeit in etwa so beschreiben: Wir ersetzen 46 Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor durch Fahrzeuge mit Elektromotor - aus den bereits genannten machtpolitischen Gründen. Das wird aber niemals wirklich nachhaltig sein können, wenn wir die Fahrzeuge weiterhin so uneffizient nutzen wie heute. Wir werden uns also vom Privatbesitz eines Autos als vorherrschendes Mobilitätsmodell verabschieden müssen. Punkt. Künftige Technologieinnovationen müssen stets auch verknüpft sein mit Nutzungsinnovationen.

E-Mobil-Studie VW ID
Foto: Uli Deck/ dpaSPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch behaupten Sie, dass die Konzerne aus dem Silicon Valley, also zum Beispiel Google oder Apple, als Erste begriffen haben, dass die Chance der Digitalisierung der Autobranche primär in einer besseren Nutzungsökonomie liegt. Hierzulande scheint dagegen die größte Angst, dass diese Konzerne ein eigenes Auto bauen. Ist das altes Denken?
Rammler: Na ja, anfangs war tatsächlich nicht klar, ob diese Konzerne ein eigenes Auto bauen wollen. Inzwischen wird immer deutlicher, dass sich diese Firmen keine Assets ans Bein binden wollen. Produktionsstätten, Gewerkschaften, all diese Dinge. Sie wollen stattdessen den Rahm abschöpfen: die Daten. Sie wollen sich als Vermittler von Mobilitätsdienstleistungen positionieren und werden die Hardware, die sie dazu brauchen, einfach zukaufen. Die Kooperation von Fiat-Chrysler mit Google geht in diese Richtung. Am Ende dieser Entwicklung wären die Autohersteller aber dann nur noch White-Label-Hersteller für die Datenkonzerne.
SPIEGEL ONLINE: Ein Albtraum für die Industrie.
Rammler: Klar. Wobei die Frage ist, ob die deutschen Hersteller nicht langfristig mit dieser Lösung besser beraten sind, als die Datenkonzerne auf ihrem Terrain angreifen zu wollen.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Rammler: Schauen wir uns das Beispiel der Übernahme des Nokia-Kartendienstes Here durch BMW, Daimler und Audi an. Ein klarer Schachzug gegen Google und seinen Kartendienst. Der aber basiert auf den Daten von Abermillionen Android-Nutzer, die mit ihren Handys Daten in Echtzeit in Googles Wegeleitsystem senden. Wer hat da wohl langfristig die Nase vorn? Die Logik der Technologiedynamik lässt es aktuell zumindest nicht unrealistisch erscheinen, dass die deutschen Autohersteller irgendwann nur noch Zulieferer sind.