
Kalle Schwensen über Kiez-Autos: "Die Mädels dachten, da steckt ne Bombe drunter
Kalle Schwensen über Kiez-Autos "Ich bin eher der Limousinen-Typ"
Die besten SPIEGEL-ONLINE-Geschichten des Jahres: Dieser Artikel erschien erstmals am 28. Januar 2016.
Ein Restaurant am Hamburger Hafen, zur Mittagszeit herrscht Hochbetrieb. Für Kalle Schwensen wird das Nebenzimmer aufgemacht. "Ist diese Stadt nicht wunderschön?", fragt er. Die Elbe spiegelt sich auf den Gläsern seiner goldumrandeten Sonnenbrille. Er wird sie während des Gesprächs kein einziges Mal absetzen.
SPIEGEL ONLINE: Stimmt es, dass Sie auf Ihrem Führerscheinbild eine Sonnenbrille tragen?
Schwensen greift in die Innentasche seines Maßanzugs und legt eine Führerscheinkarte auf den Tisch.

SPIEGEL ONLINE: Und der soll echt sein?
Schwensen: Klaro.
SPIEGEL ONLINE: Wie kriegt man den?
Schwensen: Ganz einfach: Sie geben ein Foto mit Sonnenbrille ab. Bei mir hat das funktioniert.
Karl-Heinz Schwensen verbirgt seine Augen selbst vor Gericht. Als er im Mai 1991 vor dem Hamburger Landgericht als Zeuge vorgeladen wurde, erschien er "wie immer mit kaum durchschaubarer Sonnenbrille". So notierte es das "Hamburger Abendblatt". Er trug die Sonnenbrille auch, als Sanitäter ihn im August 1996 auf einer Trage aus einem Lokal in Hamburg-Pöseldorf schleppten. Drei Täter hatten auf ihn geschossen, zwei ihrer Kugeln trafen ihn. Schwensen sagt, der Anschlag hätte nicht ihm gegolten.
Karl-Heinz Schwensen, 62, lebt seit mehr als 50 Jahren in Hamburg. Als er zwölf ist, ziehen seine Mutter und sein Vater, ein Soldat der U. S. Army, aus der fränkischen Provinz in den Norden. Schwensen wird Klubbetreiber. Mit Mitte 20 gehört ihm das "B'sirs" (laut Schwensen "einer der besten Klubs Deutschlands, David Bowie war auch da"), später das "Top Ten" ("Bis zu 1500 zahlende Gäste an den Samstagen - die Zuhälter und Prostituierten kamen umsonst rein, sie sorgten für Umsatz"), heute der SM-Klub "Club de Sade" und "Das Verlies", in dem auch Touristenführungen stattfinden. Auf seiner Visitenkarte und seinem Xing-Profil steht "Kalle: Taking Care Of Business - Ich kümmere mich ums Geschäft".
Als er vor dem Interview für Fotos posiert, formt er mit seinen Daumen und Zeigefinger die sogenannte Merkel-Raute und freut sich diebisch. Schwensen, der Kiez-Kanzler.

Er pflegt ein Image als Vorzeige-Zwielichtgestalt. Auf der offiziellen Webseite der Hansestadt wird er als "echte Kiezgröße" betitelt. Für die Selbstvermarktung ist das hilfreich - für ihn und für die Stadt. Hamburg-St. Pauli: Mehr Folklore passt in kein Viertel. Auf der Reeperbahn und links und rechts davon ist alles eine Nummer schriller. Natürlich auch die Autos.
SPIEGEL ONLINE: Was war Ihr erster eigener Wagen?
Schwensen: Ein Buick Riviera, Baujahr 1963. Ich war Anfang 20, ein Freund von mir hatte ein Problem, er musste weg und brauchte Geld. Da hab ich ihm den Wagen abgekauft. Ein Riesen-Ami-Schlitten mit geiler Servolenkung und elektrischen Fensterhebern. Ich hatte ihn aber nur anderthalb Tage.
SPIEGEL ONLINE: Was ist passiert?
Schwensen: Ich bin am Steuer eingenickt und gegen einen Baum gefahren, damals in der Hindenburgstraße an einem Pfingstsonntag. Totalschaden. Ich erinnere mich noch, wie ich traurig an der Straße saß, in Jeansjacke, Jeanshose und Plateauschuhen, der Buick auf dem Abschleppwagen. Ein Jahr später hab ich mir das gleiche Modell noch mal gekauft. Tolles Ding, richtig breit. Hat um die 36 Liter geschluckt - aber kein Problem, war ja vor der Ölkrise.
SPIEGEL ONLINE: War der Riviera Ihr Traumauto?
Schwensen: Nein, das war der Stutz Blackhawk. Da waren die Armaturen serienmäßig vergoldet. Alle Leute, die ich gut fand, hatten so einen.
SPIEGEL ONLINE: Wer war das?
Schwensen: Muhammad Ali, Sammy Davis Jr., Elvis. Der Blackhawk war nicht unbedingt ein schönes Auto, die Form war eigenwillig. Meine Kollegen kannten den Wagen gar nicht, die haben alle für Ferrari, Porsche, Rolls-Royce und Mercedes geschwärmt.

Der Stutz Blackhawk III von Elvis Presley
Foto: Chuck Burton/ APSPIEGEL ONLINE: Haben Sie sich den Traum erfüllt?
Schwensen: Nee, der Blackhawk war sehr teuer. In Los Angeles hab ich Anfang der Achtziger mal 'ne Runde mit einem gedreht.
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie denn in LA gemacht?
Schwensen: Boxkämpfe angeschaut. In Las Vegas waren wir auch. Larry Holmes kämpfte gegen Gerry Cooney . Außerdem habe ich den US-Führerschein gemacht. Den deutschen hatte man mir zu der Zeit gerade abgezogen.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Schwensen: Zu schnell gefahren. Immer zu schnell. Das war aber nie böse Absicht, ich will Ihnen das erklären: Wenn Sie einen Pkw mit Automatik fahren, der ordentlich PS hat - da hört man die Geschwindigkeit nicht, die kriegt man gar nicht mit. Ich hab das erst viel später mal verstanden, als ich den Wagen einer Freundin fuhr. Die hatte eine Corvette, da bekommt man durch das Schalten und die Motorengeräusche ein Gefühl für den Speed.
SPIEGEL ONLINE: Aha.
Schwensen: Außerdem bin ich ja fast immer nachts gefahren, da ist nichts los, und man hat keinen Vergleich, wie schnell die anderen fahren.
SPIEGEL ONLINE: Ach so.
Schwensen: Ich bin nicht rücksichtslos.
Zwinkert er jetzt mit den Augen? Kalle Schwensen ist schwer zu durchschauen, und das liegt nicht nur an der Sonnenbrille. Er kokettiert mit seiner Kiezvergangenheit. Über seine rechte Gesichtshälfte zieht sich eine lange Narbe, die Kellnerin im Restaurant und die SPIEGEL-ONLINE-Fotografin begrüßt er mit Handkuss. Seinem Charme mit einem Hauch von Ruch ist auch ein großer deutscher Autohersteller erlegen.
SPIEGEL ONLINE: Wie kam es, dass Sie mal Werbung für Carsharing gemacht haben?
Schwensen: Für was?
SPIEGEL ONLINE: Für Carsharing.
Schwensen: Ah, Sie meinen Car2Go von Mercedes! Ja, der Slogan der Kampagne war "Kalle2Kiez". Da gab's auch "David2Wache", "Queen2Marry" und so. Die Werbeagentur hat mich gefragt, ob die meinen Namen verwenden dürfen. Weil: Wenn da steht: "Kalle2Kiez", dann weiß jeder, wer gemeint ist.

Carsharing-Kampagne von Daimler
Foto: Car2GoSPIEGEL ONLINE: Nutzen Sie Carsharing?
Schwensen: Also nee. Das sind ja meistens auch ziemlich kleine Autos.
SPIEGEL ONLINE: Kommt das für Sie nicht infrage?
Schwensen: Ich bin eher der Limousinen-Typ.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das?
Schwensen: Ich mag große, bequeme Limousinen. Ferrari und Porsche bauen gute Autos, aber da kommst du nur mit dem Schuhlöffel rein. Ich bin auch überhaupt kein Motorfreak. Mich hat nie interessiert, wie viel PS oder Hubraum mein Auto hat. Wichtig ist für mich nur, dass ich nicht überholt werden kann, wenn ich es nicht will.
SPIEGEL ONLINE: Kann man sich als Kiezgröße auf dem Fahrrad blicken lassen?
Schwensen: Als ich 13 Jahr alt war, wurde mein Fahrrad geklaut. Seitdem bin ich keins mehr gefahren.

Schwensen am Steuer seines Geschäftswagens
Foto: Lisa MeinenSPIEGEL ONLINE: Was für ein Auto fahren Sie zurzeit?
Schwensen: Als Geschäftswagen einen Audi A8. Und dann habe ich noch meinen Mercedes. Den hab ich so umrüsten lassen, wie ich es wollte.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das?
Schwensen: Es ist ein 560 SEL, gebaut Anfang der Neunziger. Die US-Version mit Doppelscheinwerfern und größerer Stoßstange. Aber meinen gibt's in der Form kein zweites Mal. Ich habe zum Beispiel ein System einbauen lassen, mit dem man das Auto auf Knopfdruck auf- und zumachen konnte. Damals war das neu, heute hat das jedes Auto. Wenn ich den vor der "Madhouse"-Disco geparkt hatte und mit den Mädels zum Wagen marschiert bin, wollten die nicht einsteigen.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Schwensen: Weil der Wagen durch das automatische Öffnen schon vom Weitem geblinkt hat. Die dachten, da steckt 'ne Bombe drunter.
SPIEGEL ONLINE: Was machte den Wagen noch besonders?
Schwensen: Hinten und vorne gab es Telefonhörer, unter dem Sitz waren Kenwood-Verstärker verbaut. Das ganze Interieur habe ich mit schwarzem Leder überziehen lassen, auch den Dachhimmel und das Armaturenbrett. Und die Türgriffe waren nicht nur umschalt, sondern komplett aus Wurzelholz. Für 12.000 Mark hab ich den Wagen auch neu lackieren lassen, in Perlmuttschwarz. Von Mercedes gab's nur so ein Behörden-Schwarz. Weil ich eine Zeit lang keinen Führerschein hatte, stand er nur rum und müsste mal wieder aufgerüstet werden.
SPIEGEL ONLINE: Schon mal überlegt, ihn zu verkaufen?
Schwensen: Nein, von diesem Mercedes werde ich mich niemals trennen. Das war das einzige Auto, das ich als Neuwagen gekauft habe. Davor bin ich immer nur Gebrauchte gefahren. Ich war nie auf das neuste Modell von BMW, Ferrari oder Lamborghini scharf. Bei einigen Leuten auf dem Kiez war das natürlich anders.
SPIEGEL ONLINE: Bei wem zum Beispiel?
Schwensen: Keiner legte mehr Wert auf sein Auto als Harry "Der Hundertjährige".
SPIEGEL ONLINE: Harry Voerthmann von der Zuhältertruppe "GmbH". Wie kommen eigentlich solche Namen wie "Der Hundertjährige" zustande?
Schwensen: Harry hat immer davon erzählt, wie viele Jahre er Zuhälter war, wie lange er im Knast gesessen ist, wie lange er bei der Fremdenlegion war und so weiter. Irgendwann hat man ihm mal vorgerechnet, wie alt er wäre, wenn die ganzen Geschichten stimmen würden. Daher "Der Hundertjährige".
SPIEGEL ONLINE: Verstehe.
Schwensen: Harry hatte sie alle: Ferrari, Porsche, Rolls-Royce. Und sein aktuelles Auto war in seinen Augen auch immer das Nonplusultra auf dem Markt. "Niemand baut bessere Sportwagen als Ferrari", hat "Der Hundertjährige" gesagt, als er einen fuhr. Und dann kam der "Schöne Klaus" von der "Nutella"-Bande mit seinem Lamborghini.
SPIEGEL ONLINE: Klaus Barkowsky?
Schwensen: Ja, dessen Lamborghini hatte Scherentüren. Alle bewunderten plötzlich nur noch den "Schönen Klaus" mit seiner schwarzen Flunder. Harry behauptete zuerst, ein Lamborghini mache nur Ärger. Aber dann war er zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt, keiner wusste, wo er steckt.
SPIEGEL ONLINE: Und?
Schwensen: Als er wieder auftauchte, fuhr er einen Lamborghini. Harry sagte, er habe seinen Ferrari auf dem Weg nach Monte Carlo mit 320 km/h auf der Autobahn gecrasht - und als er sich in Düsseldorf auf die Schnelle einen adäquaten Ersatzwagen besorgen wollte, habe es nur diesen Lamborghini gegeben. War natürlich Quatsch. Der hat die ganze Zeit zu Hause in Pinneberg gesessen und wartete, bis ihm der Lamborghini angeliefert wurde. Aber so war "Der Hundertjährige". Und Walter "Beatle" Vogeler fuhr einen Excalibur, den später Klaus gekauft hat. Für diese Jungs waren Autos einfach Statussymbole.

Der "Schöne Klaus" im Lamborghini Countach. Das Foto wurde 1982 in Hamburg-Ohlsdorf aufgenommen. Der "Schöne Klaus" besuchte die Beerdigung des "Schönen Mischa".
Foto: Thomas HirschbiegelSPIEGEL ONLINE: Welche Marke ist zurzeit im Milieu angesagt?
Schwensen: Bentley.
SPIEGEL ONLINE: Warum gerade Bentley?
Schwensen: Ganz einfach: Weil jeder sofort weiß, dass ein Bentley viel kostet. Bei einem Mercedes sieht man es unter Umständen nicht auf den ersten Blick.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es eine klassische Zuhälterkarre?
Schwensen: Nein. Sie können einen Generaldirektor nicht von einem Zuhälterboss unterscheiden - beide fahren Jaguar oder Bentley oder Mercedes. In den Siebzigern waren Autos wie der Camaro oder der Thunderbird in grellen Farben klassische Zuhälterwagen. Normale Leute wurden in solchen Autos nicht gesehen.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollten vor einigen Jahren ein Cannonball-Rennen in Europa organisieren.
Die klassischen Cannonball-Rennen führen in den USA von der Ost- zur Westküste - und sind illegal, weil die Teilnehmer in der Regel sämtliche Verkehrsvorschriften missachten. Hollywood hat diese Bleifußveranstaltungen in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Filmen wie "Cannonball" mit David Carradine und "Auf dem Highway ist die Hölle los" mit Burt Reynolds glorifiziert.
Schwensen: Ja, Anfang der Achtziger habe ich selbst mal an einem Cannonball teilgenommen. Das Rennen führte von einem Kaff in Norddänemark bis nach Marbella. Ich fuhr damals einen Mercedes 450 SEL.
SPIEGEL ONLINE: Waren Sie allein unterwegs?
Schwensen: Nein, das war ja die Zeit, als ich die Fahrerlaubnis entzogen bekommen hatte. In Deutschland ist deshalb mein Kumpel "Haschi" gefahren.
SPIEGEL ONLINE: "Haschi"?
Schwensen: Ich weiß gar nicht, wie der richtig heißt. "Haschi" führte in Hamburg damals das "Cadillac", eine Kneipe, die wie ein US-Diner eingerichtet war. Unser Proviant für das Rennen bestand aus zwei Stangen Zigaretten.
SPIEGEL ONLINE: Was sind da noch für Leute mitgefahren?
Schwensen: Insgesamt waren 54 Autos am Start. Noch einer vom Kiez, "Schweine-Hans", mit einem Porsche. Zwei Österreicher, auch mit einem Porsche, die trugen weiße Arztkittel und hatten eine Kühlbox mit einer Schweineleber dabei. Ein Franzose in einer Corvette, die Reifen so groß, dagegen sahen Formel-1-Schlappen aus wie Fahrradschläuche. Ein Typ hatte extra für das Rennen seinen Opel verkauft, um sich für das Wochenende einen Mercedes 500 SE zu mieten. "Haschi" und ich landeten immerhin auf dem zehnten Platz.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange haben Sie für die Strecke gebraucht?
Schwensen: 28 Stunden.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie sich an die Verkehrsregeln gehalten?
Schwensen: Schauen Sie, in jungen Jahren bin ich auch mal Autorennen gefahren, wo man es eigentlich nicht darf. So was macht man heute nicht mehr. Weil man ja weiß, was da passieren kann. Als Jugendlicher macht man immer Sachen, die man als Erwachsener nicht macht.
SPIEGEL ONLINE: Würden Sie von sich behaupten, dass Sie vernünftiger geworden sind?
Schwensen: Klar. Das würde ja sonst bedeuten, ich hätte aus dem Leben nichts gelernt. Als Kind machte man Klingelstreiche - das macht man heute nicht mehr. Und so ist das mit anderen Sachen auch.
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie aus Ihrem Leben gelernt?
Schwensen: Ich lerne immer weiter.