
Fahrräder nach Maß: Im Rahmen geblieben
Fahrräder nach Maß Der Stahlinist
1,82 Meter, 78 Kilo, 85 Zentimeter - wer bei Rudolf Pallesen ein Rad kauft, ist anschließend fast so etwas wie ein gläserner Mensch. Körpergröße, Gewicht, Schrittlänge - alles misst der Mann aus Neuendorf bei seinen Kunden aus. Selbst die täglichen Fahrgewohnheiten müssen angegeben werden. Nur ein paar Kilometer zum Bäcker? Wird sofort notiert.
Doch Kunden von Pallesen wollen es nicht anders. In einem alten Apfelhof nordöstlich von Hamburg betreibt der 50-Jährige eine Werkstatt für individuell angefertigte Fahrradrahmen - quasi eine Schneiderei für hochwertigen Stahl. Davon gibt es in Deutschland nur wenige; es ist die Haute Couture des Fahrradbaus mit ebenso hohen Preisen: Zwischen 3000 und 6000 Euro kostet ein Rad bei ihm.
Im Blaumann sitzt Pallesen am Schreibtisch. Vor Jahren war sein Büro noch ein Hühnerstall. Mittlerweile hängen statt Nestern Bilder an der Wand, eines formt aus Fahrradteilen das Wort "Design". Seine Räder, die den Markennamen Norwid tragen - Nor für Norden und Wid, althochdeutsch für Wald - gehören eher zur Kategorie Klassiker. "Von Spielereien beim Design rate ich meinen Kunden ab", sagt er. Die Gefahr, dass es bei der Bestellung zu Missverständnissen kommt, ist einfach zu groß.
Seine Kunden haben bereits eine Fahrradgeschichte
Etwa 130 bis 140 individuelle Rahmen fertigt Pallesen mit drei Gesellen und einem Auszubildenden pro Jahr. Durchschnittlich 20 Stunden braucht er für die Herstellung eines Rahmens - das Beratungsgespräch und Ausmessen des Kunden nicht mitgerechnet. Norwid baut Rennräder, Reiseräder, Mountainbikes und sportliche Langstreckenräder - sogenannte Randonneure.

Auch kleine Verzierungen stellt Pallesen auf Wunsch her
Foto: Martin SchlüterSeine Kunden kommen aus der ganzen Welt. Es sind Menschen, "die bereits eine Fahrradgeschichte haben, und die wissen, was sie an ihren alten Rädern stört", so Pallesen. Meistens entsprechen sie nicht dem Durchschnitt, sind besonders groß oder klein und auf einem standardisierten Rad unbequem unterwegs.
"Vom Alter und Einkommen geht das querbeet. Ich verkaufe nicht nur Räder an die sogenannten Silver Ager, deren Haus schon bezahlt ist, sondern auch an Studenten oder Familien, die sich statt eines Autos lieber ein teures Fahrrad leisten". Betrachtet man eine deutschlandweiten Online-Befragung des Internetshops "fahrrad.de", dann ist die Klientel von Pallesen handverlesen.
Statt Maschinen arbeiten bei Norwid Menschen
Demnach wäre die Mehrheit der Befragten bereit, 1500 Euro für ein neues Bike auszugeben, mehr als 3000 Euro, wie für ein Pallesen-Rad, würden jedoch nur noch weniger als zehn Prozent der Befragten investieren. Doch den allgemeinen Wachstumstrend im Fahrradhandel spürt auch Pallesen deutlich: "Ich könnte sicher pro Jahr 30 Prozent mehr Rahmen verkaufen, doch das schaffen wir nicht. Ich habe mich entschieden, mit Norwid klein zu bleiben."
Dass ein Norwid-Rad seinen Preis hat, wird einem spätestens bei einem Blick in die Werkstatt bewusst. Statt Maschinen arbeiten dort Menschen, die viele Einzelteile mit Lötbrennern zu einem Ganzen fügen.
In einem Holzregal liegen verschiedene Stahlrohre in unterschiedlicher Dicke, Qualität und Länge bereit. Sie kommen aus Italien wie die Kultmarke Columbus, aus England kommt der Reynolds-Stahl, seltener aus den USA, manchmal auch aus Fernost. Wer Edelstahl bestellt, zahlt 800 Euro extra.
Alleine die Materialkosten liegen bei etwa 400 Euro pro Rohrsatz
"Mit Rohren kenne ich mich seit meiner Jugend aus", sagt Pallesen. Vor seiner Ausbildung bei einem bekannten Fahrradrahmenbauer in Blaubeuren, Baden-Württemberg, habe er bei den Stadtwerken Elmshorn Ver- und Entsorger Fachbereich Wasserversorgung gelernt. Alleine die Materialkosten für den Stahl beziffert Pallesen auf etwa 400 Euro pro Rohrsatz. Wie es sein kann, dass mancher Baumarkt für nur 250 Euro ganze Räder verkauft? Pallesen zuckt mit den Schultern.
In seiner Hand hält er eine Konstruktionszeichnung mit detaillierten Fräsplan, damit die Rohre anschließend auch wirklich zueinanderpassen. Ein Analyseprogramm hat die Anleitung ausgespuckt. Zuvor hatte der Norwid-Chef die Abmessungen des Kunden in eine Excel-Tabelle eingegeben. Ist die Wahl auf eine passende Stahlsorte gefallen, beginnt die Säge- und Fräsarbeit. So werden beispielsweise Kanäle in das Rohr eingearbeitet, die später die Bremszüge führen können.

Der Konstruktionsplan für ein Norwid-Rad
Foto: spiegel onlineFür Pallesen ist Stahl nicht einfach Stahl. Wenn er über das Material redet, gerät er fast ins Schwärmen: "Steel is real", sagt er - nur Stahl ist echt. Zwar wiege Aluminium nur ein Drittel, dafür habe es aber auch nur ein Drittel der Biegefestigkeit. Deshalb müsste man für ein stabiles Alu-Rad "monstervoluminöse Rohre herstellen" - und das sei nun wirklich nicht "ästhetisch". Zwar habe ihm der Alu-Boom Anfang der Neunziger das Leben schwer gemacht, doch derzeit erleben Stahlrahmen aufgrund ihrer Eigenschaften "ein Revival", so Pallesen.
Edles Silberlot hält die Rohre zusammen
Auf einer sogenannten Rahmenlehre stellt der Chef anschließend die Geometrie des Rahmens ein - das massive stählerne Gestell ist quasi die Schneiderpuppe des Rahmenbauers. Alle Rohre werden so zusammengelegt, wie sie im fertigen Rahmen zueinander stehen sollen.
Mit einem Lötbrenner heftet er die Rohre provisorisch zusammen. Dafür verwendet er Silberlot mit einem Silbergehalt von 56 Prozent. Kilopreis: 300 Euro! Pallesen zieht eine dunkle Brille auf und wirft den Brenner an. Aus dem stiftförmigen Werkzeug faucht ein Gemisch aus Acetylen und Sauerstoff. Eine tiefblaue Flamme, an deren Färbung der Rahmenbauer erkennen kann, ob die materialschonende Arbeitstemperatur von 650 Grad erreicht ist, trifft auf kalten Stahl. Unter der Hitze verfärbt sich das Flussmittel, das eine Oxidation des Stahls verhindert. Ist das Lot noch zu kalt, läuft es nicht. Ist es zu heiß, leidet das teure Highend-Rohr.
Passt beim Provisorium alles, darf die dauerhafte Vermählung beginnen. Der Rahmen wird komplett gelötet, anschließend muss erneut die Fräse ran. Gewinde werden nachgeschnitten, Kleinteile wie die Halteösen für den Gepäckträger mit dem Lötstab befestigt.
Die Lieferzeit beträgt etwa vier bis fünf Monate
"Jetzt wird verputzt", erklärt Pallesen den nächsten Arbeitsschritt. Das sei im Prinzip nichts anderes als ein feinfühliges Saubermachen, so der Rahmenbauer. Aus gratigen Übergängen müssen glatte Stellen werden: "Das ist viel Fummelei". Zwei bis drei Stunden kalkuliert er für Schmirgeln und Feilen ein.
Anschließend wird der Rahmen mit Muskelkraft auf einem Tisch gerichtet. Nichts darf schief sein, die Toleranz beträgt gerade einmal einen halben Millimeter. Entspricht der Rahmen Pallesens Qualitätsansprüchen, verschickt er ihn zum Pulverbeschichten in den Taunus zu einer Spezialfirma. Bis der Rahmen dann in Rot, Blau oder einer anderen Farbe zurück aufs Dorf Nahe Elmshorn kommt, vergehen zwei bis drei Wochen. Selbst dann fehlt immer noch der letzte Schliff.
Wie bei einem Auto wird der Hohlraum versiegelt, damit das Norwid-Rad nicht rostet. Erst dann werden die ebenfalls selbstgebauten Laufräder, Sattel, Lampen und Gepäckträger montiert. "Ohne die individuell ausgewählten Komponenten hat der Kunde auch keine Freude an seinem neuen Rahmen", so Pallesen. Denn anders als bei einem Rad von der Stange, kann der Kunde - wenn es denn sinnvoll für seine Fahrgewohnheiten ist - Rennradteile mit Mountainbike-Komponenten kombinieren.
"Unsere Lieferzeit beträgt aktuell vier bis fünf Monate", sagt Pallesen. Deshalb bestellen viele seiner Kunden ihr Rad schon im Herbst oder Winter, damit es pünktlich zur Saison fertig ist. Und noch ein Klassiker: Erst kauft der Mann ein Rad, nach drei Monaten die Frau. "Die Frauen sagen meistens: 'Ich brauche kein neues Rad, meins ist noch gut genug'. Doch wenn sie dann ihrem Mann mühsam hinterherradeln, ändert sich die Einstellung schnell."
Video: Fetisch aus Stahlrohr