Unfallprävention in Russland Autofahrer in Gottes Hand

Da hilft nur noch himmlischer Beistand: 30.000 Menschen starben im vergangenen Jahr auf Russlands Straßen. Die verzweifelte Verkehrspolizei setzt nun auf Gottes Wort. An der Trasse Moskau-Jaroslawl redet ein orthodoxer Priester den Autofahrern ins Gewissen.

Misstrauisch und schlecht gelaunt öffnet der bulgarische Trucker die Tür seines Fahrerhäuschens. Gerade hat ihn ein russischer Verkehrspolizist herausgewunken - das kann nur Ärger, Schmiergeld oder beides bedeuten. Außerdem ist es bitterkalt an diesem Wintertag etwa 200 Kilometer nördlich von Moskau. Aber vor ihm baut sich kein dicker Verkehrspolizist auf, um ihm etwa zu erklären, dass sein Nummernschild nicht den Anforderungen der russischen Straßenverkehrsordnung entspreche.

Nein, zur Fahrerkabine hinauf blickt ein hagerer junger Mann in schwarzer Robe und Kappe, um den Hals baumelt ein Kreuz. "Halten Sie sich an die Normen der christlichen Moral. Werden Sie nicht wütend auf der Straße, überlassen Sie Ihrem Nächsten die Vorfahrt", spricht er. Der Bulgare schaut etwas ungläubig, lugt an dem Priester vorbei, vermutet offenbar eine versteckte Kamera. Aber da ist die Predigt schon vorbei. "Ich wünsche Ihnen Gottes Hilfe, und möge ein Schutzengel Sie auf all Ihren Wegen begleiten." Der LKW-Fahrer murmelt ein "Danke" unter seinem Schnurrbart hervor, schließt erleichtert die Tür und fährt weiter.

Pawel Rachlin lächelt und geht für einen Moment zum Aufwärmen in das Häuschen der Polizisten. Der 30-Jährige Priester aus der Stadt Jaroslawl ist zufrieden, trotz minus 15 Grad Kälte. "Ich sitze nicht nur in meiner Kirche, sondern kämpfe hier an vorderster Front", sagt Rachlin, bevor er wieder nach draußen geht. Auch Alexej und die anderen Verkehrspolizisten freuen sich über den Priester an ihrem Posten: Vielleicht verbessert Priester Pawel ja ihr Image - die Staatsbeamten gelten als ziemlich korrupt.

Schnelle Predigt am Straßenrand

Heute steht Rachlin zwei Stunden an der sechsspurigen Straße, redet einigen Dutzend Autofahrern ins Gewissen. Die meisten hören stoisch bis zum Ende zu, vermutlich, weil im Hintergrund ja immer noch ein Verkehrspolizist steht. Rachlin bezeichnet die Reaktion als "bedingt positiv". Von Fahrern sehr teurer Autos wird ihm zuweilen sogar Geld angeboten, nachdem er seine kleine Predigt beendet hat. Aber der Priester ist überzeugt: Wenn seine Zuhörer die Türe schließen und den ersten Gang einlegen, dann denken sie "ganz fundamental über Gut und Böse" nach.

Weitaus mehr traut dem göttlichen Wirken Andrej Sirotkin zu, Vizechef der Verkehrspolizei in Jaroslawl. "Letztes Jahr haben wir die Hauptstraße, die von Moskau nach Jaroslawl führt, vom Erzbischof segnen lassen: Seitdem ist die Zahl der Unfälle um 25 Prozent gefallen!" Auf der Autobahn M8 hält auch Priester Rachlin zweimal im Monat seine Predigten. "Die Menschen finden seit dem Ende der Sowjetunion zum Glauben zurück", ist Sirotkin überzeugt, "das müssen wir nutzen."

Im chaotischen Straßenverkehr verlassen sich die meisten Russen heute tatsächlich auf Gott: Viele lassen ihre neu gekauften Autos für umgerechnet 15 Euro von einem orthodoxen Priester segnen, und in jedem russischen Auto klebt auf dem Armaturenbrett eine Ikone des Heiligen Nikolaus-Wundertäters, der in der orthodoxen Kirche als Schutzheiliger der Reisenden gilt. Es hilft allerdings wenig: In Russland starben nach Angaben des Verkehrsministeriums im letzten Jahr bei Verkehrsunfällen knapp 30.000 Menschen, in Deutschland zum Beispiel weniger als 4500. Was einen russischen Autoblogger zu der Feststellung veranlasst: "In ausländische Autos werden serienmäßig Airbags eingebaut, in unsere Ikonen."

Gottes Wort wirkt

Dieser Zynismus ist dem optimistischen und zudem tiefgläubigen Sirotkin fremd: In seiner Stadt, deren 600.000 Einwohner auf eine fast tausendjährige christlich-orthodoxe Geschichte zurückblicken, zeigt Gottes Wort Wirkung, ist er überzeugt. Seit den neunziger Jahren weisen die orthodoxen Priester in ihren Predigten regelmäßig darauf hin, dass ein christlicher Autofahrer doch anhalten sollte, wenn eine alte Frau am Zebrastreifen steht.

Polizeivize Sirotkin sorgte dafür, dass sich seit letztem Jahr auch die Fahrschüler von Jaroslawl eine Einführung in die Verhaltensregeln eines ordentlichen Christenmenschen im Straßenverkehr anhören müssen, bevor sie den Führerschein bekommen. Was genau den Neulingen hinterm Steuer auf den Weg gegeben wird, kann Sirotkin allerdings nicht sagen, "Anweisungen zum geistlich-moralischen Verhalten im Straßenverkehr" eben.

Konkreter wurde im letzten Jahr die Verkehrspolizei im südrussischen Krasnodar. Nachdem der Vatikan schon 2007 einen Verhaltenskodex für katholische Autofahrer herausgegeben hatte, verfassten die Russen ihre eigene Broschüre mit "zehn orthodoxen Verkehrsgeboten" und verteilten einige tausend Exemplare auf den Straßen der Stadt. Gebot Nummer eins etwa hält den Christen am Steuer an, sich vor jeder Fahrt zu vergewissern, ob er auch den Kreuzanhänger nicht vergessen hat. Nummer acht gebietet, den Autofahrer, der einem gerade die Vorfahrt genommen hat, nicht zu verfluchen, sondern für ihn mit den Worten "Errette ihn, oh Herr, und sei gnädig zu mir, der ich ein Sünder bin" zu beten. Ein ähnliches Gebet soll ein Autofahrer auch während der gesamten Fahrt sprechen, "anstatt sinnloser Gespräche".

Auch andernorts fordert die russische Verkehrspolizei nun Hilfe von ganz oben an. Nachdem im ostsibirischen Tschita mehrere Kinder angefahren wurden, wussten sich die Verkehrspolizisten nicht mehr anders zu helfen, als bei Gott um Hilfe zu bitten: Die örtlichen Priester weihten die offenbar verfluchten Zebrastreifen mit Gebeten und heiligem Wasser. Die Sprecherin der Verkehrspolizei ist voller Optimismus: "Ich denke, mit Hilfe himmlischer Kräfte wird es uns gelingen, die Situation zu ändern."

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