Verkehrswende City-Maut und autofreie Innenstädte – erst gehasst, dann geliebt

Straße und historischer Wasserturm in Halle (Saale)
Foto: Winfried Rothermel / imago imagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es ging um 500 Parkplätze. In Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt wollte der Stadtrat den Autos in der mittelalterlichen Altstadt mit ihren teils engen Gassen etwas Platz wegnehmen und blockierten öffentlichen Raum freimachen. Eine Mehrheit der Volksvertreter war für die »autoarme Innenstadt«, Wissenschaftler unterstützen die Idee. Doch es wird nichts daraus.
Denn die Menschen lehnen die Idee ab. Mehr als 60 Prozent stimmten bei einem Bürgerentscheid parallel zur Landtagswahl im Juni gegen die Veränderungen, die Wahlbeteiligung lag bei 57 Prozent. Die Kampagne gegen die Neugestaltung hatte zuvor davor gewarnt, dass weniger Autos im Zentrum zwangsläufig das »Aussterben von jeglichem innerstädtischen Leben« zur Folge hätte und witterten »ideologisierte, autofeindliche Politik«.
Der Ton wird schnell rau, wenn über autofreie Zonen oder eine City-Maut gestritten wird. Das lässt sich auch in München, Berlin, Köln oder Frankfurt am Main beobachten. Wenn dann auch noch Wahlkampf herrscht, ist ein ruhiges Abwägen des Für und Wider kaum noch möglich. In Berlin etwa erinnert der Sound der SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey gerade arg an den alten Spruch »Freie Fahrt für freie Bürger«. Womit allerdings nur Autofahrten gemeint waren. Berlin sei nicht Bullerbü, so die Politikerin in Anspielung auf die Kinderbücher von Astrid Lindgren.
Im Wahlkampf halten wir eigtl zurück, aber der Bullerbü-Spruch ist einfach dumm. Weltweit bauen BM aller Couleur (Paris, London, Vancouver, Mailand) Großstädte 🚲-freundl um, weil sie sonst zum Erliegen kommen. Nur @FranziskaGiffey weiß es besser. https://t.co/PGTRIRAgmO
— ADFC (@FahrradClub) June 29, 2021
Zwar wird den Deutschen eine besondere Autoanhänglichkeit unterstellt, doch diese Debatten verlaufen fast überall in Europa nach einem ähnlichen Muster. Oft stehen sich zwei Lager gegenüber, die jeweils etwa die Hälfte der Stadtbewohner hinter sich versammeln und wenig Verständnis für die Bedürfnisse und Sorgen der jeweils anderen aufbringen. Die verhärteten Fronten führen dann häufig dazu, dass alles beim Alten bleibt. Doch es gibt Ausnahmen.
Dort, wo es trotzdem gelingt, beispielsweise eine City-Maut einzuführen, wächst von Jahr zu Jahr die Zustimmung. Das zeigen Studien, Umfragen und Langzeitbeobachtungen. Das Paradebeispiel der Verkehrsforschung ist Stockholm, wo sich die Bürger geradezu gegenseitig an die Gurgel gingen, als vor anderthalb Jahrzehnten über eine Gebühr für die Einfahrt in die Innenstadt diskutiert wurde. In London, Mailand und Madrid war es ähnlich.

Rush Hour in München: Stau auf dem Mittleren Ring (Archivbild)
Foto: Sven Hoppe / picture alliance / dpa»Tal des Todes«, nennt Jonas Eliasson das Phänomen. Der schwedische Mobilitätsforscher leitete einige Jahre die Verkehrsbehörde in Stockholm und untersucht seitdem die Langzeiteffekte von Instrumenten zur Verkehrslenkung. »Zum Start der City-Maut im Jahr 2006 war die Maßnahme in Stockholm extrem unpopulär. Als alle sehen und erleben konnten, was sie bewirkt, änderte sich das.« Später fanden zwei von drei Bürgern die City-Maut gut. In anderen Metropolen verlaufe die Entwicklung ganz ähnlich.
Die Zahl der Autos auf den Straßen in Stockholm sank zunächst um ein Fünftel, es gab weniger Staus, der Verkehr floss besser. Davon profitierten anfangs vor allem Autofahrende, die schneller an ihr Ziel kamen. »Es passierten weniger Unfälle, die Luft wurde besser. Die Einnahmen flossen zurück in das Verkehrssystem – in Straßenbau, Nahverkehr, Fuß- und Radwege«, erzählt Eliasson.
Der Ausbau der Alternativen bewegte wiederum mehr Leute zum Wechsel vom Auto zu anderen Verkehrsmitteln. Die Stadt erhebt die Gebühr abhängig von der Uhrzeit, maximal sind es umgerechnet rund zehn Euro pro Tag. An Wochenenden und Feiertagen kostet die Fahrt durch die City nichts. Die Aufregung aus den Anfangszeiten ist verflogen. Paris geht nun noch einen Schritt weiter und verwandelt Teile der Innenstadt in eine weitestgehend autofreie Zone.
City-Maut für München, autofreie Zone in Berlin
Hierzulande beginnt die Debatte erst. In Berlin sammelt eine Initiative gerade Unterschriften für einen Volksentscheid über die Frage, ob der private Autoverkehr innerhalb des S-Bahnrings deutlich reduziert werden soll. Es ist bislang nicht viel mehr als ein Denkanstoß für eine Stadt, in der im Schnitt jede Woche ein Mensch im Straßenverkehr stirbt und die aus allen Nähten platzt.
»Weltfremd« und »lebensfern« sei die Idee, schallt es aus Teilen der Politik zurück, die auf die Umfragen schielt. Das sind vergleichsweise harmlose Reaktionen. In den sozialen Netzwerken rollt die Wutwelle. Im Herbst wählen die Berliner parallel zur Bundestagswahl auch ein neues Stadtoberhaupt. Keine gute Zeit für eine differenzierte Diskussion.

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In München wiederum steht eine City-Maut auf der Agenda der Lokalpolitik. Das Ifo-Institut hatte im vergangenen Jahr für eine »Anti-Stau-Gebühr« in Höhe von sechs bis zehn Euro plädiert , um die gesellschaftlichen Kosten durch den Autoverkehr einzupreisen und die Umweltbelastungen zu reduzieren. Pauschale Kritik kam postwendend vom ADAC: So ein Modell benachteilige Menschen mit niedrigem Einkommen.
»Es sind immer die gleichen reflexartigen Reaktionen«, sagt Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). »Da wird viel Unfug verbreitet, etwa dass solche Ansätze sozial ungerecht seien.« Das seien vorgeschobene Argumente, da ärmere Stadtbewohner in der Regel gar kein Auto besitzen. Ihnen würde aber der Ausbau des Nahverkehrs nützen, den eine City-Maut mitfinanzieren könnte. Der Verkehrsforscher hält Pilotversuche wie bei den Pop-up-Radwegen für sinnvoll, um die Auswirkungen sichtbar zu machen.
Angst vor Veränderungen
»Unsere Scheu vor Veränderungen ist meistens größer als unsere Vorstellungskraft, was diese bewirken können«, sagt Jonas Eliasson aus Stockholm. Status-quo-Verzerrung nennen Wissenschaftler dieses Festhalten am gegenwärtigen Zustand. Die Sorge, etwas zu verlieren, ist größer als die Zuversicht, etwas zu gewinnen. Auch Eliasson rät zu zeitlich begrenzten Experimenten, weil jede Stadt anders funktioniere.
In Halle (Saale) war die Debatte ebenfalls von Verlustängsten geprägt, beobachtete Reinhold Sackmann von der Martin-Luther-Universität. »Das vermeintlich Negative, wie der Wegfall von Parkplätzen, dominierte die Diskussion. Die positiven Potenziale, wie eine höhere Aufenthaltsqualität für alle, wurden dagegen nur angedeutet«, sagt der Soziologe. Anwohner und Ladenbesitzer bestimmten mit konkreten Sorgen die Schlagzeilen, die Vision blieb vage.
Die Stadt erarbeitet nun ein umfassendes Mobilitätskonzept, bei dem die Bürger stärker mitreden können. Die bislang fehlende Beteiligung gehörte zuvor zu den Kritikpunkten. Der Bürgerentscheid könnte so nicht das Ende, sondern erst der Anfang einer echten Debatte sein, glaubt Sackmann: »Vielleicht wurde in Halle nur der zweite vor dem ersten Schritt gemacht.«