Sozialer ÖPNV Die Formel für einen ticketfreien Nahverkehr

Der Verein Einfach Einsteigen hat ausgerechnet, wie man in Bremen den ÖPNV aus Umlagen finanzieren könnte. Bürger und Unternehmen sollen sich die Kosten teilen. Ist das auf andere Städte übertragbar?
Kann man in Bremen bald Straßenbahn fahren für unter 20 Euro im Monat?

Kann man in Bremen bald Straßenbahn fahren für unter 20 Euro im Monat?

Foto: Mohssen Assanimoghaddam/ picture alliance/dpa

Stellen Sie sich vor: Jeder fährt U-Bahn und niemand kauft sich ein Ticket. Klingt nach Anarchie, ist aber nur eine alternative Form, die Finanzierung von öffentlicher Mobilität zu denken.

Der Verein Einfach Einsteigen hat für die Stadt Bremen ein Konzept entwickelt, in dem der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) nicht durch die Nutzer, sondern durch alle Bürger und die hiesigen Unternehmen finanziert wird - durch eine Umlage, wie bei der Sozialversicherung. Und es gibt konkrete Zahlen , wie die Umstellungen gelingen soll.

Attraktiv durch radikale Rabattierung?

Europaweit werden gerade Strategien diskutiert, wie man den ÖPNV für Nutzer attraktiver machen kann. Ein Ansatz ist die radikale Rabattierung von Fahrkarten: In Wien gibt es das 365-Euro-Ticket. In Luxemburg fährt man seit März sogar kostenfrei Bus und Bahn. Der Bremer Verein Einfach Einsteigen schlägt ein Modell vor, das über gestaffelte Beiträge funktioniert.

Und zwar so:

Betrieb und Unterhalt des Nahverkehrs sollen paritätisch finanziert werden. Bürger zahlen 19,76 Euro pro Monat. Unternehmen treten 3,23 Prozent ihres Gewinns ab. Darüber hinaus sieht das Modell einige Sonderregeln vor, etwa eine Pflichtabgabe für Großveranstalter und einen vergünstigten Tarif für Bezieher von Grundsicherung. Die 75,5 Millionen Euro an Subventionen, die die Stadt Bremen bisher jährlich in den Betrieb des Nahverkehrs steckt, würden für den Ausbau der Infrastruktur frei, wie für die Anschaffung neuer Fahrzeuge und den Bau neuer Linien. 

Bürger ergreifen die Initiative

Der Diplom-Psychologe Mark Peter Wege, der Politikwissenschaftler Wolfgang Geißler und die Nachhaltigkeitsökonomin Josephine Wohlrab haben das Modell entwickelt. Zwar sagen sie, selbst keine ausgewiesene Verkehrsexpertise zu haben, das Thema habe sie aber dennoch sehr interessiert. Vor allem die Frage der Finanzierung. Sie sprachen ein Jahr lang mit verschiedenen Akteuren der lokalen Verkehrsbetriebe, etwa der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen oder der Bremer Straßenbahn AG (BSAG) sowie den Behörden.

Herausgekommen ist ein Konzept, das nun vom Senat der Stadt Bremen im Rahmen des Nahverkehrsplans geprüft wird. Die Untersuchung sei ergebnisoffen, es gebe jedoch eine gewisse Skepsis, die vor allem rechtlicher und organisatorischer Natur sei, heißt es aus der Behörde. 

"Ich finde das Konzept problematisch, weil der Verkehrsbudgetgedanke dabei unterwandert wird", sagt Gunnar Polzin, Abteilungsleiter Verkehr im Bremer Mobilitätsressort. Er rät davon ab, Insellösungen in einzelnen Städten zu erzeugen. Das sei vor allem für Pendler ungerecht. Neben Bremen gehören etwa auch Bremerhaven und Oldenburg zu einem Verkehrsbund. "Wenn sie in Bremen den Nulltarif einführen, aber in der Nachbargemeinde in Niedersachsen trotzdem zahlen müssen, bauen Sie ein großes tarifliches Gefälle auf." 

Verkraften Städte mehr Fahrgäste?

Auch sei die Reihenfolge der Maßnahmen unglücklich: Am Preis zu schrauben mit der Gefahr, die vorhandene Infrastruktur durch mehr Fahrgäste zu überfordern, sei keine gute Idee. "Luxemburg hat im Gegensatz dazu erst einmal Millionen in die Hand genommen, um die Straßenbahn auszubauen. Die haben zuerst ins Angebot investiert", so Polzin.

Die Bremer Initiative erwartet, 30 Prozent mehr Fahrgäste zu erreichen. Das wäre ein extrem großer Erfolg. Und zugleich ein Risiko, meint Christian Böttger, Professor für Verkehrsökonomie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. In vielen Innenstädten bewege man sich schon heute am Anschlag.

Schienen und Fahrzeuge sind dabei nicht die einzigen Ressourcen, um die man sich Gedanken machen muss. Es geht auch ums Personal. "Selbst wenn das Geld für einen Ausbau der Netze da wäre, hätten wir nicht die Ingenieure, um die Infrastruktur so schnell zu planen", sagt Böttger. Die Stadt Wien etwa habe in einem graduellen Verfahren den öffentlichen Verkehr ausgebaut, auf Vorrat sogar, und parallel dazu den Straßenverkehr zurückgedrängt. Davon seien deutsche Großstädte weit entfernt.

Erst investieren, dann einsteigen

Tatsächlich schließt das Bremer Modell einen Ausbau der Infrastruktur durchaus ein. "Wir haben in unserem Konzept vom Moment des Beschlusses bis zur Einführung drei bis fünf Jahre kalkuliert", erklärt Wolfgang Geißler. Dazwischen sei Zeit für Fahrzeuganschaffungen und die Forcierung von aktuellen sowie zukünftigen Ausbauprojekten. Dass Bremen aktuell keine U-Bahn hat und es so keine Tunnelbauarbeiten geben muss, macht die Ausbauprojekte weniger aufwendig.

"Wir haben die BSAG gefragt, was passieren muss, um den zu erwartenden Zustrom von Fahrenden aufzufangen", so Geißler. Im ersten Schritt würden zusätzliche Busse und Straßenbahnen völlig ausreichen. Für die Anschaffung stünden die 75 Millionen Euro zur Verfügung, die der Bremer Haushalt aktuell jährlich an Subventionen leistet.

Christian Böttger hält diese Summe für eher überschaubar. Infrastrukturprojekte seien teuer. "Wir reden über gewaltige Beträge, die politisch nicht in Sicht sind", so der Verkehrsökonom. Einfach Einsteigen hält dagegen: "Neue Straßenbahnlinien kosten 10 bis 20 Millionen Euro pro Kilometer." Zudem bezuschusse der Bund solche Projekte mit bis zu 90 Prozent. "Wenn man zukünftig im Jahr ein bis zwei neue Linien bauen könnte, wäre das für Bremen ein großer Schritt."

Aufstand der Unternehmer

Selbst wenn alle Berechnungen im Modell aufgehen: Will die Stadt das Modell umsetzen, muss sie sich auf den Protest ansässiger Firmen einstellen. Denn etwa die Hälfte der Kosten sollen durch Unternehmen gedeckt werden. Das Bremer Modell sieht vor, dass diese 3,23 Prozent ihrer Gewinne abtreten. Die Umlage soll an die Gewerbesteuer geknüpft werden. In Frankreich ist eine Verkehrssteuer längst üblich.

Das Problem: Der ÖPNV ist in Deutschland Ländersache. Gilt die Angabe nur in Bremen und nicht bundesweit, ist das ein Nachteil für den Standort. Olaf Orb, stellvertretender Leiter der Abteilung Standortpolitik, Häfen und Verkehr der Handelskammer Bremen, findet deutliche Worte und spricht von einer realitätsfernen Vorstellung. Die Umlage würde eine erhebliche Erhöhung der Kosten in Bremen bedeuten. "Mit der Folge, dass der Standort für potenzielle Neuansiedlungen an Attraktivität verliert und in Bremen angesiedelte Unternehmen ihren Standort überdenken", so Orb.

Andere Städte, andere Modelle

In der Koalitionsvereinbarung des Bremer Senats lautet ein Ziel, die Prüfung von Innovationen im ÖPNV. In dem Zusammenhang wird das Konzept des Vereins Einfach Einsteigen untersucht. Die Ergebnisse sollen im Herbst 2020 vorliegen.

Das Modell ist auf Bremen zugeschnitten. "Die ÖPNV-Situation ist in Deutschland so unterschiedlich, dass man unser Modell nicht einfach auf eine andere Stadt übertragen kann", so Wolfgang Geißler. Trotzdem kann der Ansatz generell auch für andere Kommunen spannend sein, etwa in Form eines Off-Peak-Modells, bei dem man nur für die Stoßzeiten ein Ticket braucht. In Berlin soll eine Initiative an dieser Idee arbeiten, so Geißler.

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