Auf dem Rad zur Arbeit Pendlerrisiko Pedelec

In diesen Frühlingstagen lässt sich an mancher roten Ampel beobachten, was noch nicht lange zum gewöhnlichen Bild in Deutschlands Städten gehört: Zu Stoßzeiten morgens und gegen Feierabend bilden sich Warteschlangen – aus Radfahrern auf dem Arbeitsweg.
In der Coronakrise ist das ohnehin seit Jahren populärer werdende Verkehrsmittel Fahrrad noch beliebter geworden. Dass Menschen in der Pandemie Busse und Bahnen meiden, ist vielfach belegt und auch, dass ein Großteil aufs Rad umsteigt. Es gibt zudem Indizien dafür, dass mehr Menschen mit dem Rad zur Arbeit pendeln als vor der Krise.
Das legen etwa Daten des sozialen Netzwerks Strava nahe. Demnach wuchs der als Pendlerstrecke aufgezeichnete Anteil der Wege 2020 in Hamburg um fast ein Viertel (23,5 Prozent) im Vergleich zu 2019. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Berlin (22,1 Prozent). Die Zuwächse in Köln und München sind mit rund 13 Prozent und 7 Prozent kleiner. Repräsentativ sind diese Daten allerdings nicht – vorwiegend nutzen jüngere und sportlich ambitionierte Menschen die Strava-App.

Mit dem Rad zur Arbeit – das sollten Sie wissen
BVZF
Zudem sind immer mehr Radlerinnen und Radler elektrisch unterwegs – der Verkaufsanteil der E-Bikes ist 2020 auf fast 40 Prozent gestiegen und lag damit so hoch wie nie. Und der E-Bike-Boom bringt einen neuen Pendlertypus hervor, der weite Strecken abreißt.
Die Elektrifizierung motiviert zum Pendeln – für den Berliner Verkehrslobbyisten Heinrich Strößenreuther ist das klar. »Und sie kommen nicht nass geschwitzt im Büro an, mit einem normalen Fahrrad wird das schwierig – vor allem an heißen Tagen«, sagt er. Mit Tretunterstützung seien 12 bis 15 Kilometer im Sattel zur Arbeit kein Problem mehr.
»Durch das Pedelec sehen wir eine deutliche Reichweitenverlängerung«, sagt auch Claudia Nobis, Mobilitätsforscherin beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Zwar werde der Trend zum Pendeln mit dem Rad derzeit vom Homeoffice-Zwang ausgebremst, dennoch sieht sie ein »enormes Verlagerungspotenzial« zugunsten von Fahrrad und Pedelec. Bisher würden Wege mit einer Länge von fünf bis zehn Kilometer zu mehr als 50 Prozent mit dem Auto bestritten.
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Es gibt weitere Anzeichen, dass die im Sattel zurückgelegten Arbeitswege länger werden: So boomen Leasingfahrräder, die oft als E-Bikes ausgeliefert werden. Der Bestand an Dienstfahrrädern habe sich 2020 auf etwa 700.000 nahezu verdoppelt, sagt Wasilis von Rauch vom Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF).
Doch je schneller Radfahrer dank elektrischem Rückenwind unterwegs sind, desto höher auch das Unfallrisiko – vor allem für Berufspendler. Denn beim Pendeln verlagert sich das Einsatzgebiet der Pedelecs vom Land, wo sie vor allem ältere Radler für Touren nutzen, in die Stadt.
Dort lauere größeres Unfallpotenzial, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). »Zwei Drittel des Unfallgeschehens mit Fahrrädern spielt sich beim Einbiegen, an Kreuzungen sowie Grundstücksein- und -ausfahrten ab.« Gemeinhin also in Städten und größeren Ortschaften.
Mehr getötete Pedelecfahrer
Das höhere Durchschnittstempo von Pedelecs ziehe bei Unfällen tendenziell schwerere Verletzungen nach sich, warnt Brockmann. Das Risiko werde nur dadurch abgeschwächt, dass Berufspendler die jüngeren Radler seien: »Die kommen bei Stürzen eher mal mit einer Schürfwunde davon und brechen sich nicht gleich den Oberschenkelhals.«
Die Statistik birgt aber Anlass zur Sorge: Während 2020 bei Straßenverkehrsunfällen weniger Fahrradfahrer getötet wurden, stieg die Zahl der getöteten Pedelecfahrer im Vergleich zu 2019 deutlich.
Eine mangelhafte Infrastruktur verschärfe das Risiko, monieren Fahrradlobbyisten wie Unfallforscher. Die Radwege in vielen deutschen Städten seien marode und schlecht geplant. Die im vergangenen Jahr eingerichteten Pop-up-Radwege wertet BVZF-Geschäftsführer von Rauch zwar als »super Schritt«. Sie hätten in Berlin manche Hauptverkehrsader für Fahrradfahrer überhaupt erst sicher befahrbar gemacht. »Doch es gibt in keiner Stadt ein wirkliches Radwegenetz.«
Ein anderer Ansatz, das Pendeln mit dem Rad sicherer zu gestalten, sind Radschnellwege. Derartige Verbindungen gibt es bereits im Ruhrgebiet und Göttingen. Städte wie Stuttgart, Mannheim oder Berlin planen sie – allerdings oft im Schneckentempo . Radfahrer müssen auf den Trassen selten mit kreuzendem Verkehr rechnen, sie kommen schneller ins Zentrum oder gar in die Nachbarstadt. Fürsprecher loben an dem Konzept, dass diese Wege Einfallstraßen entlasten, wenn Autofahrer aufs Rad umsteigen.
»Ihr Erfolg wird davon abhängen, dass Konfliktmöglichkeiten mit anderen Verkehrsteilnehmern tatsächlich vermieden werden«, sagt Jörg Kubitzki, Verkehrssicherheitsforscher vom Allianz Zentrum für Technik. Auch Berufskollege Brockmann bleibt skeptisch. Wenn mehr Fahrradverkehr über Radschnellwege in die Citys fließe, dürfte er dort nicht auf eine veraltete Infrastruktur treffen. Schon ohne die Fahrradautobahnen nehme der Radverkehr zu, »ohne dass kritische Punkte angefasst« würden.
Für Heinrich Strößenreuther, seit Kurzem Mitglied der Berliner CDU, besteht der »verkehrspolitische Skandal« darin, »dass viele aus Angst nicht aufs Fahrrad umsteigen«, wenn sie sich die Fahrbahn mit Autos und Lastwagen teilen müssen. Viele Kreuzungen müssten umgebaut werden. Auch nach Ansicht von BVZF-Geschäftsführer von Rauch bremsen die Infrastrukturdefizite den derzeitigen Fahrradboom aus.
Dabei könnten vor allem Familien auf den Zweitwagen verzichten, wenn weitere alltägliche Wege im Sattel bestritten würden, sagt Lobbyist Strößenreuther. Das passiert bisher aber offenbar kaum – viele Menschen setzen sich in der Pandemie sogar öfter ins Auto.